Der Autor heißt Titus Arnu. Er ist bekannt als empfindsamer Beobachter der Umwelt mit einem ausgeprägten Blick für den ganz normalen Alltagswahnsinn. „Papa Blödmann“ heißt eines seiner Bücher, „Nackt am Grill“ ein anderes. Köstlich. Er ist aber auch Reporter, der über Computersucht, das Fressverhalten von Fischottern und Tourenski am Ätna schreibt.
Diesmal war er in der Toskana unterwegs. Dabei ist er auf das Weingut Petra gestoßen, das nicht weit von der Mittelmeerküste liegt, etwa auf Höhe der Insel Elba, und das von Mario Botta entworfen wurde, einem bekannten Schweizer Architekten. Der Wein scheint ihm dort gut geschmeckt zu haben. Sauer aufgestoßen sind ihm nur zwei Dinge: der hohe Preis von 60 Euro pro Flasche und die Architektur des Weinguts.
„Azteken-Tempel“ in der Toskana?
Das Weingut wirke wie „ein Azteken-Tempel“ in der lieblichen Hügellandschaft der Toskana. Besonders die 150-stufige „extravagante Außentreppe“, die „von der Erde in den Himmel“ führt, hat den SZ-Mann ratlos gemacht: „Man fragt sich, wozu diese gigantische Treppe, die so auffällig in den Hügeln der Maremma herumsteht, eigentlich gut sein soll.“
Mit demselben Recht könnte man fragen, weshalb der Kölner Dom zwei Türme hat und nicht nur einen. Oder warum der Eiffelturm 354 Meter hoch sein musste. Reine Stahlverschwendung. Man könnte den Kopf über Karl Schwanzers 4-Zylinder-BMW-Haus in München schütteln und einwenden, ein normales, gradliniges Hochhaus wäre billiger und genauso gut. Stimmt alles. Ist aber furchtbar praktisch und schrecklich ökonomisch gedacht.
Das Urteil des Journalisten: Angeber-Architektur
Für den SZ-Autor ist das, was der Architekt und Petra-Besitzer Vittorio Moretti, sein italienischer Auftraggeber, in der Toskana errichtet haben, schlicht „Angeber-Architektur“. Zwar versucht der zuständige Redakteur der Süddeutschen Zeitung, die Aussage zu relativieren, indem er im Vorspann des Artikels die Frage stellt: „Was davon ist reine Protzerei, was ist wirklich sinnvoll für die Weinproduktion?“ Doch die Lesart ändert sich dadurch nicht.
Ich gestehe: ein törichter Artikel. Architektur, mit den Augen eines Banausen gesehen. Eines Menschen, der keinen Spaß an neuen Formen hat. Dem offenbar jede Fantasie, die über das rein Funktionale hinausgeht, verdächtig vorkommt: erstaunlich für ein Leitmedium wie die Süddeutsche Zeitung. Ein Ausrutscher.
Keine Ader für bauliche Metaphern
Sicher, man muss nicht alles gut finden, was Architekten heute bauen. Auch die Formensprache des Weinguts Petra mag auf den ersten Blick fremd, vielleicht sogar verstörend wirken, weil wir von der Toskana anderes gewohnt sind: Natursteinhäuser, bescheiden dimensioniert und einfach konstruiert. Für kühne Entwürfe fehlte den Menschen auf dem Land das Geld. Für bauliche Metaphern besitzen sie keine Ader.
Titus Arnu auch nicht. Der Hintersinn, der Humor, die doppelbödige Blickweise, die den Autor in seinen Büchern und vielen Artikeln auszeichnet, scheint ihm beim Anblick dieses Weinguts verlassen zu haben. Für ihn ist Petra eine „Kathedrale des Weins“ – und genau das stört ihn. Er findet das Pathos, das den Wein hier umgibt, unangemessen. Er liebt die Inszenierung nicht und meint, dem Wein stände eine bescheidenere Behausung irgendwie besser.
Dürfen Weingüter nur mönchisch-schlicht aussehen?
Wieso eigentlich? Darf Wein, der in den letzten fünfzig Jahren vom Nahrungsmittel zum Genussmittel mutiert ist, nur mönchisch-schlicht auftreten? Der Aufwand, der getrieben wird, um die Qualität zu erhöhen, ist überall auf der Welt gestiegen. Teilweise ist er irrwitzig hoch. Als Folge dessen besitzt guter Wein heute eine Aura, wie er sie in der Vergangenheit nie besaß. Manche meinen, von ihm gehe Magie aus.
Warum also soll ein Gut, das Weine mit hohem Genusswert erzeugt, in einer ungestalteten, rein nutzwertmäßig zurechtgeschneiderten Hülle existieren? Wenn Banken Bürotürme errichten, die in den Himmel wachsen, mag Größenwahn der Baumeister gewesen sein. Moderne Weingutsarchitektur aber bleibt am Boden. Der Boden ist das Element, das den Wein wachsen lässt. Die 150-stufige Treppe geht bei Petra auch nicht in den Himmel. Sie geht optisch den Hang hoch, an dem das Weingut erbaut ist.
Kein Wort über ökologische Belange
Doch mit ästhetischen Fragen setzt sich der SZ-Autor nicht groß auseinander, mit ökologischen noch weniger. Kein Wort darüber, dass der Kellers riesig und trotzdem unsichtbar ist, weil er weitgehend unter der Erde verschwindet. Die Landschaft wird nicht verschandelt, der Flächenverbrauch gering gehalten. Kein Wort davon, dass der Keller technisch so konstruiert ist, dass trotz der teilweise hohen Außentemperaturen im Sommer wenig Energie zum Kühlen gebraucht wird, und dass diese wenige Energie auch noch durch Sonnenpanel erzeugt wird.
Vittorio Moretti, der Besitzer, ist Unternehmer, kein Winzer. Er stellt Beton-Fertigteile für Krankenhäuser, Schulen, Brücken, Verwaltungsgebäude her. Damit hat er es zu Wohlstand gebracht. Daneben baut er Hochsee-Yachten, die beim America’s Cup mitsegeln. Die Schaumweinkellerei Bellavista, die er in der norditalienischen Franciacorta gegründet hat, ist Ausdruck seiner persönlichen Leidenschaft für Wein. Diese Leidenschaft hat sich mit der Gründung des Weinguts Petra in der Toskana fortgesetzt. Ist dieser Mann nun ein Angeber? Wollte er nur einen PR-Effekt?
Petra-Architektur – ein Statement für den Weinbau
Ich kann nicht in seinen Kopf schauen. Aber ich weiß, dass die spektakuläre Petra-Architektur auch ein Statement ist: für die Wertschätzung des Weinbaus, der in diesem Teil der Toskana nahezu eingeschlafen war. Die Landbevölkerung war vor über hundert Jahren in den Bergbau abgewandert, weil dieser ein sicheres Einkommen versprach. Die Weinberge blieben offen. Als die Eisenerzförderung in der Toskana unrentabel wurde, wechselten sie als Industriearbeiter ins Stahlwerk im benachbarten Piombino. Erst als sie auch da nicht mehr gebraucht wurden, kehrten sie auf ihre Scholle zurück und versuchen sich seitdem als Winzer. 15 Jahre ist das erst her.
Moretti, der Industrielle aus dem Norden, hat früher als die Einheimischen selbst begriffen, dass die Zukunft dieses Landstrichs nicht beim Stahl, sondern beim Wein und beim Olivenöl liegt. Er war überzeugt, dass sich im Val di Cornia, wie das Anbaugebiet präzis heißt, genauso gute Weine erzeugen lassen wie im weiter nördlich gelegenen Bolgheri. Von dort kommen Weine wie Sassicaia und Ornellaia, die Weltruf genießen.
Soll Petra seine Trauben in einem Schuppen vinifizieren?
Er hat, als nur wenige an das Potenzial der dortigen Weinberge glaubten, 100 Hektar mit Reben bestockt. Er ist so zum größten Weingutsbesitzer der Gegend aufgestiegen. Dass so einer seine Trauben nicht in einem Schuppen oder einer Garage vinifizieren kann, ist klar. Also musste ein neues Gebäude her, aber keines, das den bäuerlichen Natursteinbau historisierend nachäfft, sondern eines, das funktionell auf dem neuesten Stand ist und äußerlich ein Zeichen setzt. Ist das verwerflich? Ist das Protz?
Vielleicht ist das Zeichen, das Mario Botta mit seiner Architektur gesetzt hat, zu stark geraten. Angelo Gajas neue Kellerei in Bolgheri ist zum Beispiel vollständig unterirdisch angelegt. Es gibt keine sichtbaren Treppen und Mauern. Von Antinoris neuer, gerade im Entstehen begriffener Kellerei in San Casciano sieht man von außen sogar gar nichts, nur eine langgezogene, schlitzartige Glasfront. Die eigentliche Kellerei ist tief im Hügel versenkt. Understatement pur.
Spektakuläre Weingüter in Spanien, Bordeaux, Kalifornien
Aber ist nur der gut, der sich versteckt? Dürfen Weingüter nicht wie Wohnhäuser, Kirchen oder Bürogebäude mit Formen spielen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, protzig zu sein? Auf PR-Effekte zu schielen?
Bei Titus Arnu haben es Design-Weingüter diesbezüglich schwer, nicht nur das Weingut Petra. Der SZ-Autor zitiert die Bodegas Marques de Riscal (Architekt: Frank O. Gehry) und Ysios (Santiago Calatrava) in der spanischen Rioja sowie Opus One (Scott Johnson) und Dominus (Herzog & Meuron) im kalifornischen Napa Valley, die sich alle bei ihren Kellerneubauten für spektakuläre, kühne Entwürfe entschieden haben. Der Autor weiß genau warum: „Der Konsument soll den Wein als Gesamtkunstwerk wahrnehmen. Eine wohlgeformte Flasche und ein kunstvolles Etikett reichen dafür anscheinend nicht aus. Wer als Winzer etwas auf sich hält, beauftragt einen berühmten Architekten mit dem Bau einer Design-Kellerei.“ Aha.
Die Architektur kann auf den Wein einstimmen
Überhaupt spielt der Keller bei großen Weinen nur eine untergeordnete Rolle. Die technischen Anforderungen an ihn sind relativ gering. Trotzdem tut es der Seele gut, auf ein gelungenes Bauwerk und nicht nur auf einen schäbigen Plattenbau zu treffen, wenn man das Gut besucht, aus dem der Wein der Wahl kommt.
Die Formensprache eines gut gestalteten Kellergebäudes kann einstimmen auf den Wein, kann seine Individualität und Einzigartigkeit unterstreichen. Das Kellergebäude kann mit der Landschaft harmonieren. Es kann aber auch einen sichtbaren Kontrast zu seiner Umgebung bilden – wie es alle architektonischen Meisterwerke tun, egal ob Weingut oder Museum. Deswegen ambitionierte Weingutsarchitekturen nur als bloße Litfaßsäulen zu sehen, die der „Imagebildung“ oder der „PR“ dienen, ist engstirnig und kulturfremd.
Kritik in Erbsenzählermanier
Zugegeben, viele Nobelweintrinker sind so. Sie legen in bester Erbsenzählermanier dar, wie sehr Architektur den Wein verteuert. Der SZ-Mann macht da keine Ausnahme: „Wer die spektakulären Wein-Kultstätten besichtigt, stellt sich die Frage, wieviele Promille des Architekten-Honorars auf den Verkaufspreis der Weine umgerechnet werden…“
Ein bisschen platt, finde ich. Immerhin wird am Ende klar, worauf der Autor hinaus will: das Geld. 60 Euro für eine Flasche guten Rotwein – das findet er ziemlich happig. Ist es ja auch. Nur verschweigt er, dass es von dem teuren Spitzenwein lediglich 36.000 Flaschen gibt. Petra produziert aber 350.000 Flaschen. Den größten Teil der Produktion, nämlich 130.000 Flaschen, macht ein Wein namens Zingari aus. Er kostet rund 13 Euro – inklusive der Promille für den Architekten. Dafür muss niemand sein Konto plündern.
[…] Fragwürdiger SZ-Bericht über moderne Weingutsarchitektur | weinkenner.de […]
Was wäre die Welt öde, wenn es nicht solche Entwürfe gäbe – sei es bei einer Winery, die in meinen Augen für die Symbiose von Natur, Kultur und Technik wunderbar geeignet ist, sei es in anderen Bereichen, wo Genuss im Mittelpunkt steht oder auch, wo solche Entwürfe kontrastiv wirken. Vielen Dank für einen gelungenen Kommentar, Herr Priewe, dessen Inhalt ich vollstens teile!
Naja, dass aber irgendjemand sowas auch bezahlen muss liegt doch auf der Hand. Und in diesem Fall ist auch klar, wer das ist: Nämlich jene Menschen, die die Produkte des Weingutes kaufen, das ist nämlich deren Einnahmequelle. Von daher zahle ich mit jeder Flasche auch für diesen Bau…
Mir ist es ehrlich lieber, wenn man das Geld in den Weinbau, vernünftige Bezahlung der Mitarbeiter, von mir aus auch den eh nicht vorhandenen BIO Wein steckt…
Die Idee hinter diesem Gebäude ist natürlich Marketing. Mich aber spricht das nicht an. Wein ist ein Luxusartikel, aber auch Luxus lässt sich verschiedenen definieren und offensichtlich will das Weingut eben ein gewissen Klientel ansprechen. Kann es, darf es, ich werde den Wein jedenfalls nicht kaufen!