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England’s New Glory: schäumender Wein von der Insel

Englischer Wein? Jahrzehntelang galt das als Witz. Tamara Roberts, deren Vater Mike das Weingut Ridgeview 1994 in East Sussex gegründet hatte, erinnert sich noch daran, wie der Computer-Unternehmer damals von seinem Bankdirektor ausgelacht wurde, als er um einen Kredit nachsuchte. Und dann noch für Fizz, wie die Engländer salopp zu Schaumwein sagen.

Chardonnay, Pinot Noir und Pinot Meunier im regnerischen England anzubauen – das würde doch nie funktionieren, meinte der Banker damals.

England spezialisiert sich auf Schaumweine nach Champagnerart

Heute lachen die Roberts und ihre Kollegen. Denn die englische Weinindustrie hat ihr Nischendasein beendet. Die im Mai 2015 freigegebenen Zahlen belegen: In den letzten sieben Jahren hat sich Englands Rebfläche auf mehr als 1800 Hektar verdoppelt. Und sie wächst weiter. 2014 wurde so viel geerntet, dass man davon 6,3 Millionen Flaschen schäumenden Weins auf die Flasche bringen kann. Allerdings wird es eine Weile dauern, bis die Weine nach mehrjährigem Hefelager auf den Markt kommen. Aber so viel ist erkennbar: England spezialisiert sich darauf, Schaumweine nach Champagnerart zu produzieren, also nach der traditionellen Methode der Flaschengärung.

Weinberge von Nyetimber
Weinberge von Nyetimber

Vor 2000 Jahren wurde schon einmal Wein in England angebaut – durch die Römer. Danach aber traute sich kaum noch jemand. Das Klima auf der Insel war einfach besser für Äpfel, Birnen, Kirschen und Hopfen. Es gab zwar einige Weinberge, aber die wurden eher von Gärtnern als von Vollerwerbswinzern angelegt.

Mit obskuren Hybridsorten wie Seyval Blanc oder weniger kälteempfindlichen Sorten wie Madeleine Angevine und Reichensteiner versuchte man, dem Wetter ein Schnippchen zu schlagen. Wirkliche Weinqualität stand niemals im Vordergrund.

In den frühen 80er Jahren kamen dann zwei Amerikaner auf die Idee, in England die Champagnersorten zu pflanzen: Chardonnay, Pinot Meunier, Pinot Noir – der Klimawandel deutete sich damals bereits an. Vor allem aber trieb sie die Erkenntnis, dass es die weißen Kreideböden, die die Besonderheit der Champagne ausmachen, im Süden Englands auch gibt. Das sogenannte Pariser Becken zieht sich nämlich vom Nordosten Frankreichs bis in den Südosten Englands, nur vom Ärmelkanal unterbrochen. Die Kreidefelsen von Dover sind das sichtbare Zeichen dafür, wie ähnlich der Untergrund ist.

Klima und Kreideboden

Etikett NyetimberAus der Vision der Amerikaner von damals ist das heute berühmteste Weingut der Insel hervorgegangen: Nyetimber. Dessen flaschenvergorene Schaumweine sind mit namhaften Champagnern auf Augenhöhe. Das haben sie in vielen Blinddegustationen bewiesen. Auch in Deutschland sind sie mittlerweile angekommen und haben ihre eigene Liebhabergemeinde.

Ob die Kreideböden wirklich die zentrale Rolle spielen, ist unter Experten jedoch umstritten. Wahrscheinlich war und ist die Klimaveränderung wichtiger: der langsame Übergang vom rauen atlantischen zum gemäßigt warmen mitteleuropäischen Klima mit teilweise mediterranen Zügen. Allerdings ist es im Süden Englands nicht homogen warm. Die Winzer konzentrieren sich deshalb auf besonders begünstigte Lagen in den Grafschaften Kent, Sussex, Hampshire und Wiltshire. Und dort liegen sie weit verstreut, die neuen Weinberge, in denen die Trauben für die englischen bubbles wachsen. Jedenfalls ist, was als verrückte Idee begann, inzwischen zu einer richtigen Industrie geworden. Bei Nyetimber und Ridgeview, dem zweiten namhaften Schaumwein-Erzeuger, arbeiten Menschen, für die Schaumwein kein Hobby, sondern ein betriebswirtschaftlich durchdachtes Projekt ist.

Önologisches Know-how aus der Champagne

Zu den berühmten Zwei haben sich mittlerweile neue Weingüter gesellt: Gusbourne, Hattingley Valley, Hambledon und Hush Heath. Allesamt produzieren sie vorbildliche Schaumweine nach der traditionellen Methode. Allesamt werden sie von Leuten geführt, die ihr Vermögen anderswo machten und jetzt ihr Management- und Marketing-Können im Weinsektor einbringen. Dieses neue Wein-Unternehmertum hat dafür gesorgt, dass aus der Hobbygärtnerei von einst ein neuer landwirtschaftlich-technischer Produktionszweig wurde. Das önologische Know-how kaufte man bei Fachleuten aus der Champagne ein.

Es fehlt noch an Reserve-Weinen

Ridgeview-Etikett
Ridgeview-Etikett

Wenngleich jedes Weingut eigene Zielsetzungen hat, so sind sich alle einig, dass sie englische Schaumweine und keine Champagnerkopien erzeugen wollen. Das ist gar nicht so einfach. In den bereits erwähnten Blindverkostungen konnten die Tester nicht immer eindeutig zwischen französischer und englischer Herkunft unterscheiden. Das Säurerückgrat ist bei den englischen Sparklern ebenso da wie beim französischen Original, Frucht und Mineralität genauso, die Hefenoten selbstverständlich auch. Es fehlt den englischen Schaumweinen noch etwas an Komplexität – aber die wird sich mit zunehmendem Rebenalter und mehr Reserveweinen einstellen.

Bisher musste aus rein finanziellen Gründen der ganze Wein eines Jahrgangs gefüllt werden. Einen Teil des Weins zu lagern, war nicht möglich. Mittlerweile haben es einige Weingüter geschafft, Reserveweine zum Verschnitt mit kommenden Jahrgängen zurückzuhalten.

Preislich kein großer Unterschied zur Champagne

Der Erfolg der großen Player im Schaumweingeschäft hat viele Kleinunternehmer beflügelt, ebenfalls in Weinberge zu investieren. So sind mittlerweile ein Dutzend  Boutique-Weingüter entstanden, die durchaus ernst zu nehmende Weine erzeugen, wenn auch in kleinsten Mengen. Die Queen ist jedenfalls sehr angetan von dem, was ihre Untertanen keltern. Sie hat English Sparkling Wine bereits im Buckingham Palast kredenzen lassen.

Obwohl preislich kein Unterschied zu guten Champagnern besteht, sind sie in den besseren Londoner Restaurants und Bars fester Bestandteil der Weinkarte. In Supermarktketten wie Waitrose werden die einfachen Qualitäten gelegentlich für unter 19 Pound Sterling pro Flasche angeboten (unter 27 €). In Fachgeschäften kosten die Jahrgangscuvées schnell ₤ 29,99 (rund 42 €). Eine Spitzencuvée wie Nyetimbers Tillington Single Vineyard Rosé kratzt bereits an der 80 Pound Sterling-Grenze (113 €). Für das Geld bekommt man hierzulande schon einen Dom Pérignon.

Problem: der hohe Preis

Der Vergleich mit den großen Champagnermarken schreckt die Engländer überhaupt  nicht. „Wenn die Franzosen wüssten, wie gut English Sparkling Wine inzwischen ist, würden sie sich sofort ein Ticket für den Euro Star kaufen (Anm.: Schnellzug zwischen Paris und London durch den Ärmelkanal-Tunnel) und nach Sussex kommen“, behauptet der englische Weinjournalist Tim Atkin selbstbewusst.

Deutsche brauchen nicht extra auf die Insel reisen, um eine Flasche englischen Schaumweins zu erstehen. Es gibt ihn bereits hierzulande. Die Qualität wird Schaumweinkennern Respekt abnötigen. Beim Preis werden sie zusammenzucken.


Classic Cuvée | Nyetimber
Preis: 57,69 €
Bezug: www.weinunion.de


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Autor

Jens Priewe
Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

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