Priewe: Hallo Elio, hier ist Jens Priewe. Hast du eine Minute Zeit für mich?
Altare: Ciao Giovanni! Ich bin gerade beim Flaschenfüllen. Aber ich habe auch eine halbe Stunde Zeit für dich.
Priewe: Danke für die Probeflaschen des 2007er Barolo, die du mir geschickt hast. Die Weine waren großartig. Aber der Alkoholgehalt ist ja beängstigend. Schon dein einfacher Barolo hat 15 Vol.%, der Lagen-Barolo Brunate sogar 15,5 Vol.% …
Altare (lacht): … und dieses Jahr wird es wieder genauso!
Priewe: Ist das normal?
Altare: Viva Dio! Die Natur macht, was sie will.
Priewe: Die 2007er Barolo bersten fast vor Fülle und Frucht. Aber nach zwei Glas merkt man, was man getrunken hat.
Altare: Ich hoffe, dass du die zwei Glas nie mehr vergisst!
Priewe: Warum lässt du die Trauben so lange hängen, dass sie 15 Vol.% haben?
Altare: Giovanni, ich schwöre, ich habe in 2007 nichts anderes gemacht als in den Jahren davor auch. Ich warte, bis die Farbe der Beeren dunkelrot ist, bis die Kerne krachen, wenn du auf sie beißt. Erst dann wird geerntet. Wie viel Zucker in den Beeren ist, weiß ich gar nicht.
Priewe: Lässt du keine Laboruntersuchungen machen?
Altare: Ich bin Bauer, kein Chemiker. Meine Analysen mache ich mit der Zunge.
Altares 2007er Barolo haben – wie der gesamte Jahrgang – bei den Weinkritikern hohe Bewertungen bekommen. Antonio Galloni, Parkers Italien-Verkoster, hat seinem Barolo Brunate 97, dem Barolo Arborina 96, dem Barolo Cerretta 95 und dem Basis-Barolo 94 Punkte gegeben. Andere Kritiker punkten ähnlich hoch.
Priewe: Wann hast du die Trauben gelesen?
Altare: Wie ich dir gesagt habe: Als die Kerne unter den Zähnen krachten.
Priewe: Nein, ich meine das Datum.
Altare: Da müsste ich in mein Notizbuch schauen. Das liegt oben im Büro. Aber glaube mir, Giovanni, ich habe nicht spät gelesen. Das geht gar nicht. Wenn ein Pfirsich reif ist, musst du ihn innerhalb von zwei Tagen ernten. Bei einem Apfel hast du nur 24 Stunden Zeit. Wenn du willst, dass er reif, aber gleichzeitig noch saftig ist, musst du innerhalb dieses Zeitraums pflücken. Beim Wein hat man höchstens eine Woche Spielraum.
Priewe: Nach hinten. Aber vorne, kann man da nicht ein paar Tage früher mit der Lese beginnen?
Altare: Warte, jetzt hole ich mein Notizbuch. Hast du eine Minute Zeit?
Altare legt den Hörer beiseite und verschwindet. Nach kurzer Zeit ist er wieder am Hörer.
Altare: Bist du noch da, Giovanni? In meinem Notizbuch habe ich alles festgehalten, was in den letzten 45 Jahren passiert ist, seitdem ich für den Wein verantwortlich bin. Lass mich blättern: 2007 – was steht da? Am 17. September haben wir mit der Lese der Nebbiolo-Trauben in der Lage Arborina begonnen …
Priewe: … wo der Wein jetzt 15,3 Vol.% hat.
Altare: … und am 24. September in Serralunga in der Lage Cerretta. Da hat der Wein sogar 15,5 Vol.%.
Priewe: Früher hast du nie vor Oktober geerntet.
Altare: Man kann die Rebe nicht programmieren. Man kann ihr nicht sagen, du sollst erst im Oktober reif sein. Von der Blüte bis zur Reife braucht die Nebbiolo-Rebe 130 Tage. Danach musst du lesen. Nicht früher und nicht später.
Priewe: Und wann blühte die Rebe in 2007?
Altare: Das habe ich nicht mehr im Kopf. Aber warte, Giovanni, in meinem Notizbuch habe ich auch das notiert (man hört ihn lange blättern). Hier müsste es eigentlich sein … (blättert weiter). Hier, hier steht es, glaube ich. Jetzt fehlt mir die Brille, um es dir vorzulesen. Ich habe vergessen, die Brille mitzubringen.
Priewe: Die Blüte muss in 2007 sehr früh gewesen sein!?
Altare: Warte Giovanni, jetzt hole ich die Brille.
Altare verschwindet wieder. Man hört ihn die Treppe hochgehen und kurz darauf zurückkommen.
Altare: Mit Brille kann ich dir alles genau sagen: Die Blüte war vom 8. bis 10. Mai. Fast zwanzig Tage früher als normal. Nun zähl 130 Tage weiter, und du bist am 20. September. Also alles ganz normal – bis auf die frühe Blüte eben. Ich sage dir, Giovanni … Sag mal, wie heißt du eigentlich richtig?
Priewe: Jens.
Altare: Wie spricht man das aus? Wie James?
Priewe: Nein, eher wie Jesolo.
Altare: Wie Jesolo! Jetzt versteh’ ich. Ich sage aber, wenn du nicht‘s dagegen hast, weiter Giovanni. Das ist für mich leichter. Also pass auf: Mit den Jahrgängen ist es wie mit deinen Kindern. Du musst sie nehmen, wie sie sind. Wenn sie blond sind, sind sie blond. Wenn sie rothaarig sind, sind sie rot. Es macht keinen Sinn zu fragen, wieso das so und nicht anders ist.
Priewe: Man muss also akzeptieren, dass die 2007er Barolo diese hohen Alkoholgehalte haben?
Altare: Du musst das nicht akzeptieren. Du kannst lesen, wenn der Wein 13 Vol.% hat. Aber er taugt dann nichts. Er ist grün. Du kannst, wenn du willst, den Alkohol später maschinell um zwei Grad senken. Aber das machen nur ein paar Weinindustrielle. Und die verachte ich.
Priewe: Du bräuchtest die Trauben aber nicht so stark auszudünnen, wie du es machst …
Altare: Stimmt. Aber warum mache ich das? Weil ich im Juli, wenn die überzähligen Trauben herausgebrochen werden, immer davon ausgehe, dass der Rest der Reifephase schwierig werden und die Rebstock am Ende nicht alle Trauben reif kriegen könnte, wenn mehr als zwei an einem Trieb hängen. Das wäre eine Katastrophe für einen Nebbiolo-Wein! Und glaub mir, Giovanni, diese Situation habe ich in den letzten 45 Jahren oft genug erlebt. Also lieber weniger Trauben, aber dafür die relative Sicherheit, dass der Rebstock sie auch unter schwierigen Bedingungen reif kriegt. Wenn es dann dennoch durchgängig heiß bleibt wie in 2007, muss man eben höhere Alkoholgehalte in Kauf nehmen. Ein Barolo ist eben nichts für einen Kindergeburtstag.Priewe: Die Barolo-Winzer sind also machtlos gegen den immer früheren Beginn des Vegetationszyklus?
Altare: Nicht nur die Barolo-Winzer. Alle guten Winzer sind machtlos. Ich bin der Meinung, dass, wenn einer mal einen großen Wein zustande bringt, hat er schlicht und einfach Glück gehabt hat.
Priewe: Sind die 2007er für dich große Weine?
Altare: Die Frage stelle ich mir nicht. Die stellst du. Für mich stellen die 2007er eine von vielen Möglichkeiten dar, wie ein Barolo sein kann. Die meisten Journalisten scheinen diesen Jahrgang zu mögen. Das ist immerhin erfreulich.
Priewe: Zumindest mögen sie ihn in diesem jungen Stadium. Hoffen wir, dass sich die Konsumenten nicht von den hohen Alkoholgehalten der 2007er verunsichern lassen.
Altare: Erfahrene Barolo-Trinker merken schnell, dass die 2007er nicht nur aus Alkohol bestehen. Die Weine bringen eine ungeheure Tiefe mit und besitzen, bei aller Fülle, auch Frische. Das zeigt, dass wir nicht zu spät gelesen haben.
Priewe: Die Konsumenten, deren Gaumen auf den traditionellen Barolo geeicht ist, werden das harte, kantige Tannin vermissen.
Altare: Solche Leute werden nicht zu mir kommen, sondern sich woanders eindecken. Im Übrigen fühle ich mich sehr wohl der Tradition verpflichtet – aber der des guten, nicht des schlechten Barolo.
Altare stammt aus einem kleinen Weingut, das nur Trauben, keinen Wein produzierte. Als 16Jähriger ist er selbst noch hinter dem Pflug gegangen, der von Ochsen gezogen wurde. Entbehrungen, auch Hunger kennzeichneten seine Jugend. Bis weit in die siebziger Jahre hinein lieferte er sich harte Auseinandersetzungen mit seinem Vater, der ihm, als er die Traubenerträge zu reduzieren begann, vorwarf, er würde die Familie verhungern lassen. Nach einer Reise ins Burgund stellte Altare die Produktion vollkommen um. Drastische Reduktion der Traubenerträge, Ausbau der Weine in Barriques, später Rotofermenter und Verkürzung der Maischestandzeit auf wenige Tage – diese Maßnahmen haben ihm den Ruf eines innovativen, „modernen“ Barolomachers eingetragen. Er selbst kann mit diesem Etikett nichts anfangen. In seinem Büro hängt eingerahmt ein Spruch an der Wand: „Die Innovation von heute ist die Tradition von morgen.“
Altare: Ich muss dir noch etwas erzählen, Giovanni. Neulich habe ich mit ein paar italienischen Journalisten eine Vertikalprobe meiner Barolo gemacht. Die besten Jahrgänge waren 1988 und 1998. Beides gute, aber keine großen Jahre, beide mit einer Acht endend. Am besten war der 1988er. Er zeigte Noten, wie sie ein großer Pinot Noir hat. Und jetzt halte mich bitte nicht für verrückt: Der 2008 ist wieder so ein Jahrgang. Eher elegant als füllig, eher frisch als alkoholreich, außerdem von der Presse nicht als sonderlich spektakulär, schon gar nicht als groß angesehen.
Priewe: Bist du abergläubisch?
Altare: Ich schwöre, Giovanni: nein.
Priewe: Dann ist es Zufall.
Altare: Ich weiß es nicht. Ich verstehe immer weniger, je älter ich werde. Aber das Schöne ist: Es macht mir nichts aus.
Priewe: Da spricht der weise Mann in dir.
Altare: Giovanni, ich habe Glück gehabt in meinem Leben. Zwar bin ich mit dem Barolo nicht reich geworden. Aber ich konnte meine Träume verwirklichen. Ich habe ein paar gute Weine erzeugt, kluge Leute kennengelernt, anderen Winzerkollegen Mut machen und mithelfen können, dass meine Region, das Piemont, wieder respektiert wird. Das habe ich vor 40 Jahren nicht ahnen können.
Priewe: Klingt nach Schlussstrich? Willst du dich zur Ruhe setzen?
Altare: Meine Geschichte ist zu Ende, Giovanni. Ich habe den Betrieb an meine Tochter überschrieben. Im Hintergrund werde ich weiterwirken. Aber das letzte Blatt im Buch des Winzers Elio Altare ist geschrieben.
Priewe: Noch nicht ganz. Du hast mir gerade erzählt, dass du einen kleinen Weinberg in der Spitzenlage Cannubi gepachtet hast?
Altare: 1500 Flaschen, das ist doch nicht der Rede wert. Das dient nur dazu, noch ein bisschen Spaß zu haben.
Priewe: Und das alte, verlassene Dorf in der Alta Langhe, das du mit Freunden renovieren willst?
Altare: Man braucht ein paar neue Herausforderungen. Brauchst du die nicht?
Priewe: Ich habe genügend Herausforderungen.
Altare: Giovanni, bitte vergiss nicht: Beim nächsten Mal, wenn du kommst, gehen wir essen und du erzählst mir von deinem Leben.
Parker-Tester Antonio Galloni schrieb im Februar 2011 über Elio Altare: „Seine 2007er Barolo sind atemberaubend. Anfangs an Pinot Noir erinnernd, verwandelt sich das Bouquet in pure Nebbiolo-Frucht, so dass dieser sinnliche, den Weintrinker in seinen Bann schlagende Barolo am Ende seine Herkunft nicht verleugnet. Altare, einst bekannt für seine kantigen Ansichten, die er der Öffentlichkeit gegenüber nie verheimlichte, nimmt sich heute mehr zurück als zehn Jahre zuvor. Er muss sich nicht mehr beweisen oder erklären. Seine Weine sind dermaßen brillant, dass sie wesentlich beredter sind als er selbst.“