Morgens gegen 10 Uhr kamen wir in Naoussa an, dieser Stadt, die auf dem Papier 25.000 Einwohner hat, derer ein Besucher aber nicht ansichtig wird um diese Uhrzeit. Wie ausgestorben liegen die Straßen da. Außer einigen versprengten Jugendlichen mit earphones und ein paar alten Kopftuchfrauen sind wenig menschliche Wesen zu sehen. Und Reben? Fehlanzeige. Ins Auge fallen eher die Obstplantagen, die sich rechts und links der Zufahrtsstraßen erstrecken. Auch von Weinkellereien ist nichts zu sehen. Sie liegen, wie ich später erfuhr, weit draußen vor der Stadt. Als Rotweinmetrole gibt Naoussa ein schlechtes Bild ab.
Naoussa – das Piemont Griechenlands?
Naoussa – das ist so etwas wie das Piemont Griechenlands, hatte ich gehört: ein ganz eigenes Terroir, relativ warm im flachen Teil, kühl in den höheren Lagen des Vermio-Gebirges, das zu den südlichen Ausläufern des Balkans gehört. Dazu eine lange, glorreiche Geschichte, in der immer wieder von mächtigen, tanninreichen Rotweinen die Rede ist.
Natürlich wusste ich, dass in Naoussa nicht die Nebbiolo-Traube angebaut wird, sondern die Xinomavro. Doch gilt diese als beste Rotweinsorte Griechenlands (neben der Agiorgitiko, die aber eher auf der Peleponnes anzutreffen ist). Im Oxford Weinlexikon steht außerdem, dass der Xinomavro-Wein aus Naoussa nicht nur fein, sondern auch langlebig sei. Also ähnlich wie ein Barolo. Ein belangloser, austauschbarer Roter kann es also nicht sein, der dort wächst. Entsprechend groß war die Neugier, als ich in Naoussa ankam.
Kleiner als die Hessische Bergstraße
Doch wie so oft, kam alles ganz anders. Erstens erfuhr ich, dass die Rebfläche von Naoussa in den letzten Jahren von 750 auf 350 Hektar geschrumpft ist. Das ist weniger als die Hessische Bergstraße an Weinbergen hat. Zweitens verkauft Boutari, die berühmteste Kellerei der Gegend, inzwischen mehr Merlot aus Naoussa als Ramnista, ihren reinsortigen Xinomavro: eine irritierende Nachricht. Drittens verdienen die Bauern an den Pfirsichen, auf die viele in Naoussa umgestiegen sind, mehr als an Trauben. Wer hätte das gedacht? Naoussa befindet sich – das war mir schnell klar – in einer Krise. Ein Schock für den, der glaubte, dass diese kleine Appellation den Ruhm und Ruf des griechischen Weins mehren könne.
Müder Ramnista von Kir Yianni
Und die Weine selbst? Rund 20 habe ich probiert. Das Spektrum reichte von brav über rustikal bis sehr gut, wobei festzuhalten ist, dass auch die guten und die weniger guten Weine von Naoussa irgendwie Unikate darstellen. Geschmacklich haben sie tatsächlich eine entfernte Ähnlichkeit mit den Nebbiolo-Weinen aus dem Piemont, was vor allem an dem rauen Tannin liegt. Außerdem weisen sie eine feine Säureader auf und sind etwas heller in der Farbe als andere Rotweine – auch eine Ähnlichkeit mit Barolo & Co. Als besonders langlebig habe ich sie allerdings nicht empfunden. Manche 2009er waren schon müde, zum Beispiel Kir Yiannis Ramnista, einer der bekanntesten und auch in Deutschland weit verbreiteten Weine der Appellation Naoussa, eine Art Ikone des Anbaugebiets. Dann lieber den jungen Ramnista, der zwar hart und pelzig ist, aber auch ausladend mit süßer Preiselbeerfrucht.
Die 2001er und 2000er Weine von Georgia Foundi, einer kleinen, erst 1992 gegründeten Familienkellerei, die sich rühmt, am traditionellen Stil der Naoussa-Weine festzuhalten und diese erst nach fünf Jahren frei zu geben, schmeckten zwar wie ein reifer Barolo, waren aber deutlich firnig (um nicht zu sagen: oxydiert).
Braver Epilegeminos von Tsantali
Tsantalis 1997er Epilegeminos Reserva hatte sich während der langen Flaschenlagerung auch nicht nennenswert verfeinert, dafür aber deutlich an Frische verloren (7,95 Euro, www.wines-of-greece.de). Und der einfache, junge Naoussa von Tsantali (ich probierte den 2013er) ist ein würdiger Vertreter der Kategorie „brav“. Aus Angst, dass der Konsument das viele Tannin nicht goutieren könnte, ist er von vornherein als leichter, duftiger Wein konzipiert (4,59 Euro, www.rakuten.de). So kann man das Problem mit dem Tannin auch umgehen.
Einzig Boutari hielt in diesem Contest dem Anspruch der Langlebigkeit stand – allerdings nur mit seinen Top-Weinen. Der 2007er Lagen-Xinomavro 1879 Legacy entpuppte sich als ein großer, majestätischer Wein mit viel Preiselbeer und Lakritz auf der Zunge, dazu viel süßes Tannin. Er kostet aber auch rund 27 Euro (…und ist in Deutschland nicht auf dem Markt). Die 1993er Naoussa Grande Reserve stand ihm nur wenig nach (2010er bei www.metipota.de für 11,90 Euro). Dagegen fiel der junge Standard-Naoussa mit seinem trockenen, fast schneidend-harten Tannin deutlich ab. So eine Tanninpeitsche würde auch im Piemont nur schwer Käufer finden. Verständlich, dass die Konsumenten im Zweifelsfall Boutaris Merlot vorziehen.
Boutari hat Naoussa berühmt gemacht
Boutari ist übrigens die Kellerei, die Naoussa in der ganzen Welt berühmt gemacht hat. Obwohl das Unternehmen heute sechs Kellereien in verschiedenen Anbaugebieten Griechenlands besitzt, steht Boutari immer noch für Xinomavro aus Naoussa. Der Keller dort wirkte auf mich allerdings nicht sehr vertrauenserweckend. Zerbeulte Stahltanks, rostige Pumpen, ein uraltes Rebler-Modell und Pressen, die eigentlich nur noch musealen Wert haben. 1997 war Yiannis Boutari, der das Unternehmen zuletzt geleitet hatte, ausgestiegen, um ein eigenes Weingut zu gründen, in dem handwerklicher und weniger industriell gearbeitet wird: eben Kir Yianni.
Boutari wird seitdem von einem anderen Zweig der Familie geführt. Kir Yianni ist außer in Naoussa noch in Amyndeon aktiv. Es wird heute von Stellios Boutari, Yiannis Sohn, geführt, während der Vater, inzwischen 74, Bürgermeister von Thessaloniki wurde. Vor vier Jahren wurde er von der in England ansässigen City Mayor’s Foundation zum „besten Bürgermeister der Welt“ gewählt, weil er mit der Vetternwirtschaft in der Stadt aufräumte und sich für ökologische, humanitäre und soziale Belange einsetzte. Doch zurück nach Naoussa.
Krise in Naoussa
Der Tag war zwar noch jung. Aber mir dämmerte bereits um die Mittagszeit, weshalb Naoussa so stark auf die Langlebigkeit seiner Weine abstellt. Einen traditionellen Naoussa jung zu trinken, ist tatsächlich kein Vergnügen. Folglich wird dem Konsumenten geraten, Geduld zu haben und zu warten, bis das Tannin von selbst mürbe wird. Dass die Frische dann weg und die Frucht meist schon welk ist, wird verschwiegen. Die sogenannten modernen Weine aus Xinomavro-Trauben hinterlassen aber auch keine nachhaltigen Spuren im Gedächtnis. Im besten Fall sind diese zwar duftigen, aber Tannin-entschärften Weine ganz nett zu trinken. Die Besonderheit der Xinomavro-Traube geht jedoch verloren. Ich bin zwar kein Önologe, traue mich aber zu sagen: Der Prozess, der im Piemont „Tanninmanagement“ heißt und dort schon vor 30 Jahren einsetzte, hat in Naoussa gerade erst begonnen.
Lichtblick: die Weine von Dalamara
Wer nun glaubt, Naoussa könne man deswegen vergessen, den muss ich enttäuschen. Da waren zum Beispiel die Weine von Kostis Dalamara, die viel von dem Charakter der Xinomavro zeigen. Die Weine seiner 6 Hektar, die er bewirtschaftet, sind präzis und sauber. Sie kommen teilweise von 80-jährigen Rebstöcken. Auch wenn ich bei der Lese nicht dabei war: Seine Trauben müssen reif gewesen, sorgfältig verlesen und nicht nur kurz mazeriert worden sein. Sein Lagenwein Paliokalias geizt wahrlich nicht mit Tannin, prunkt aber gleichzeitig mit reicher, süßer Frucht und einem zarten Pinot-Bouquet. So ein Wein hüpft im Glas! Die englische und amerikanische Weinpresse huldigt ihm begeistert. Die deutsche kennt Dalamara gar nicht.
Die neuen Stars: Karidas und Thymiopoulos
Oder der Naoussa von Petros Karidas, der sogar nur 2,5 Hektar Reben bewirtschaftet. Sein Wein steht für den rustikal-feinen Xinomavro: spontan vergoren, in Barriques ausgebaut, mit feinem Zimt- und Nelken-Bouquet ausgestattet sowie einem rausamtigen Tannin. Ich trank sowohl den 2012er als auch den 2007er: Der Erste schon gut antrinkbar (Parker gab ihm 92 Punkte), Letzterer ohne jede Unfrische. Er kostet nur 8 Euro ab Keller, ist aber nirgendwo in Deutschland gelistet.
Die beeindruckendste Kollektion aber kam von Apostolos Thymiopoulos, einem 35-jährigen Winzer, der sich intensiv mit der Xinomavro beschäftigt hat und sich dem Niedergang der Appellation massiv entgegenstellt. Wo andere Pfirsichbäume pflanzen, kultiviert er Reben, vor allem in den höheren, steinigeren Lagen an den Hängen des Vermio-Gebirges. Seine höchsten Weinberge reichen bis auf 550 Meter – ein kühnes Unterfangen, dort rote Trauben reif zu bekommen. Der Wein von diesen jungen Weinbergen ist sehr hell in der Farbe und expressiv fruchtig – aber nicht, wie die meisten ausländischen Journalisten schreiben, wie ein Beaujolais. Im Gegenteil: Er besitzt Komplexität und Tiefe, auch wenn er wie ein Rosé ausschaut („Young Vines“).
„Deutschland noch nicht reif für die neuen griechischen Weine“
Der Wein aus den tieferen Lagen, deren Reben noch Thymiopoulos’ Vater gepflanzt hatte, ist wesentlich dunkler und opulenter mit fein ziselierter Frucht, die an reife Pflaumen und Kirschen erinnert. Er heißt „Earth and Sky“. Die Namensgebung deutet bereits an, wo seine Weine am meisten getrunken werden: in England und Amerika. 97 Prozent gehen in den Export. „Der deutsche Markt ist noch nicht reif für die neuen griechischen Weine“ glaubt Thymiopoulos. Und: „Die Erfahrungen, die viele deutsche Weintrinker mit Griechenland gemacht haben, sind negativ. Entsprechend niedrig sind die Erwartungen. Dass wir auch gute Weine produzieren können, glaubt niemand. Erst recht nicht, dass solche Weine 20 oder 25 Euro wert sein können.“
Thymiopoulos ist der derzeit am meisten diskutierte Winzer aus Naoussa. Er steht für den hochklassigen, modernen Xinomavro. Das Adjektiv „modern“ lehnt er allerdings vehement ab. Er habe nur Pumpe und Hubwagen im Keller betont er, und Tonneaux aus französischer beziehungsweise österreichischer Eiche. Macht das einen Wein modern? Aus dem Piemont kennt man ähnlich oberflächliche Debatten aus den 90er Jahren.
Xinomavro auf den Punkt gebracht
Thymiopoulos’ Leistung besteht in Wirklichkeit darin, dass er alte Reben in guten Lagen besitzt und im Weinberg skrupulös arbeitet. Die Parameter lauten: niedrige Erträge, hohe physiologische Reife. Das schmeckt man. Das Tannin seiner Weine ist nicht stielig, nicht grün. Es ist fest, ohne aggressiv zu sein. Die Weine haben, auch wenn sie reifen können, schon im jungen Stadium einen guten Trinkfluss. Man könnte sagen: Xinomavro auf den Punkt gebracht. Einen seiner Weine habe ich übrigens nach meiner Rückkehr in Deutschland gefunden, den 2012 Earth and Sky, hier Erde und Himmel genannt.
Mit diesen erfreulichen Begegnungen und Entdeckungen machte ich mich auf den Weg zurück nach Thessaloniki. Vorbei an den endlosen Pfirsich- und Apfelplantagen, später an den Salat- und Gemüsekulturen, die sich bis an die Peripherie des zweitgrößten Stadt Griechenlands hinziehen. Abends speiste ich mit anderen Journalisten im „7 Thalasses“, einem der besten Restaurants der Stadt. Die griechischen Kollegen forderten mich auf, unbedingt noch einmal zurück nach Naoussa zu fahren. Es gäbe weitere Güter, die für den neuen griechischen Wein ständen. Namen wie Diamantakos, Vaeni, Elinos, Arvanitidis fielen.
Begegnung mit Yiannis Boutaris
Doch ich hatte nur einen Kurztrip geplant. Außerdem gäbe es in Naoussa keine guten Restaurants, hatte man mir erzählt. Zumindest keine wie das wunderbare „7 Thalasses“. „Das stimmt“, sagte der ältere Herr mit der Kurzhaarfrisur und der kleinen Tätowierung am Arm, der links neben mir saß. „Thessaloniki hat die bessere Küche, und die anderen Weine von Naoussa können Sie auch hier in den Restaurants trinken.“ Tröstlicher Ratschlag.
Ich gab dem Herrn meine Visitenkarte. Er selbst hatte keine dabei. „Yiannis Boutaris“, stellte er sich vor. Ich stutzte. Boutaris? Yiannis? Der Bürgermeister! „Der außergewöhnlichste Politiker Griechenlands“ sollte ich später im Online-Archiv des SPIEGEL erfahren. Der Mann, der die korrupten Strukturen und die Patronage-Wirtschaft in der Stadtverwaltung reformierte. Und der Mann, der das Weingut Kir Yianni gegründet hatte. Der Abend nahm plötzlich eine andere Wendung. Wir sprachen über Flüchtlinge, über die Tsipras-Regierung, über Versuche einer Annäherung an die Türkei, über grassierende Homophobie und über Juden, die zum Islam konvertieren. Kurz: Über Thessaloniki. Über Wein sprachen wir an dem Abend nicht mehr.