Spätlese: Als die Hitze eines Sommers die Weltordnung dahinschmelzen ließ

Wenn man dieser Tage hört, dass die Weinlese noch nie zuvor so früh begonnen hat, nämlich Anfang August, dann lohnt sich eine Rückschau auf das Jahr 1540. Es ist als das trockenste aller Zeiten in den Geschichtsbüchern verzeichnet – bis jetzt, denn der Sommer 2018 steht jenem vor 478 Jahren klimatisch in nichts nach.

Auch damals war seit März kein nen­nens­wer­ter Regen gefal­len, kurz dar­auf blüh­ten die Kirsch­bäu­me und Anfang Mai bereits die Wein­re­ben in Frank­reich und im Süden Deutsch­lands. Am 24. August dann hat­te die Trau­ben­ern­te begon­nen. Es war das Jahr, als sich „die Spät­le­se selbst erfin­den tat­he”, wie der Chro­nist Pierre de Teyss­eulh schrieb. Er hat­te zunächst fest­stel­len müs­sen, dass die Trau­ben wie gerös­tet waren – dun­kel und klein wie nach einem hef­ti­gen Frost. Die meis­ten Win­zer im Elsass und am Boden­see lie­ßen das ver­trock­ne­te Elend ein­fach an den Reben hän­gen, wäh­rend der Kel­ler­meis­ter des Klos­ter Erbrach in Würz­burg einen Teil der Wein­la­ge Stein ern­ten ließ und „die­se merk­wür­di­gen Halb­ro­si­nen“ kel­ter­te. Nicht nach einer beson­de­ren Rezep­tur, son­dern ein­fach, weil er wis­sen woll­te, ob wohl Trink­ba­res dar­aus wür­de. Und es wur­de: die ers­te Spät­le­se überhaupt!

Eine Geschichte der Spätlese

Soweit der His­to­ri­ker, doch ein wei­te­rer Blick in die­se Geschich­te erklärt auch den Namen „Spät“-lese. Hät­te der auf­grund der Umstän­de doch eigent­lich „Früh“-lese hei­ßen müs­sen. Doch war es so, dass die­se ers­te Lese schon einen phan­tas­ti­schen Wein her­vor gebracht hat­te und dar­um die rest­li­che Stein­la­ge nun auch ver­ar­bei­tet wer­den soll­te. Aller­dings ver­zö­ger­te sich die­se Ern­te, denn wun­der­sa­mer Wei­se hat­te es zu reg­nen begon­nen. Und hör­te eine gan­ze Wei­le nicht auf. Also saug­ten sich die schon ver­schrum­pel­ten Wein­trau­ben wie­der auf, wur­den prall und rund und als die Son­ne wie­der her­aus­kam, erlang­ten sie eine Rest­sü­ße, wie die Wein­welt sie noch nicht erlebt hatte.

Das war im Sep­tem­ber 1540 und was die Würz­bur­ger Mön­che dann ein­fuh­ren, war als Wein noch edler, noch run­der, noch bes­ser als die ers­te 1540er vom Stein Spät­le­se. Dass die Bezeich­nung Spät­le­se sich trotz der damals so unge­wöhn­li­chen Umstän­de erhal­ten konn­te, ist der heu­ti­gen Metho­de der spä­ten Lese zuzu­rech­nen. Dabei blei­ben die Trau­ben so lan­ge am Stock, bis die letz­te Herbst­son­ne ihnen das Maxi­mum an Süße ver­lie­hen hat.

Doch zurück ins Jahr 1540…

…und noch ein­mal hin­ein in die Wein­ber­ge: Auf­grund der Hit­ze tru­gen die Obst­bäu­me und -sträu­cher kei­ne Früch­te, waren die Fel­der ver­trock­net, die Ern­ten dezi­miert und Bäche und Quel­len waren schon im Juni tro­cken gefal­len. Doch dien­ten die Flüs­se ja nicht allein als Reser­voir für Trink- und Wasch­was­ser, son­dern waren zudem wich­ti­ge Han­dels­we­ge für die Trans­por­te der Waren und auch somit uner­läss­lich für eine flo­rie­ren­de Wirt­schaft. Fazit: Es ging den Men­schen Mit­tel­eu­ro­pas im Jah­re 1540 nicht gut.

Da war man froh, dass wenigs­tens die Wein­trau­ben noch hin­gen, wenn man sie auch nur zum Mos­ten pflück­te. Der Most kipp­te jedoch schnel­ler als man ihn trin­ken konn­te und so liest sich eine Beschrei­bung des Advo­ka­tus und Bier­herrn Her­mann von Weins­berg aus Köln wie eine Sze­ne­rie von, sagen wir, gro­ßer Inten­si­tät. Über­setzt ist da die Rede von den süßen Trau­ben aller­or­ten und von Euro­pa, das sich dem „delie­ren­den Rau­sche hin­ge­ge­ben“ hat­te. Über­all prü­gel­ten in die­sem Som­mer die Betrun­ke­nen sich hef­tig, „Manns­lück, Wie­ver un Frulück­cher, janz ejal kun­di­zio­ne wie Schwei­ne hig­ger d´r Hecken un op d´r Stra­ßen“. Heißt: Män­ner, Wei­ber und Frau­en, ganz egal, lagen wie Schwei­ne hin­ter den Hecken und auf den Straßen.

Und im Augus­ti­ner­klos­ter zu Wit­ten­berg saß Dr. Mar­tin Luther und schrieb an sei­ne Frau, „dass mirs hie wol gehet: ich fres­se wie ein Behe­me und sau­fe wie ein Deud­scher, das sey gott gedanckt. Amen.” Dass er dabei in den Genuss eines 1540er vom Stein kam ist mög­lich, da die Klos­ter­her­ren ihre Erzeug­nis­se unter­ein­an­der aus­tausch­ten. Der 1540er Stein (in ande­ren Auf­zeich­nun­gen auch „1540er Stein­gilts“ genannt) wur­de schon damals als „gött­li­cher Trunk“ behan­delt. So lager­te man ihn am Hofe zu Würz­burg in unge­wöhn­lich schön ver­zier­ten Fäs­sern und hin­ter einer Wand ver­steckt ein. Nur hoch­wohl­ge­bo­re­ne Gäs­te und die Gelieb­ten der Dynas­tie kamen in sei­nen Genuss und das auch nur zu ganz beson­de­ren Gelegenheiten.

Ein göttlicher Trunk – auch für den Feind

Davon muss so man­cher auch außer­halb der roya­len Fes­tung geschwärmt haben, denn die Kun­de vom „legen­dä­ren Stein“ erreich­te bald auch Fein­des­land. Sogar noch im Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg, 100 Jah­re spä­ter, waren die Vor­rä­te des 1540er Stein die größ­ten Objek­te feind­li­cher Begier­den. Noch im 19. Jahr­hun­dert tauch­ten Fla­schen des­sel­ben Wei­nes auf Auk­tio­nen auf und wur­den dort zu exor­bi­tan­ten Prei­sen gehandelt.

Bis heu­te lagert eine Fla­sche des 1540er Würz­bur­ger Stein in der Schatz­kam­mer des gut 700 Jah­re alten Bür­ger­spi­tal Wein­gu­tes in Würz­burg. Und da wir uns bereits im drit­ten Jahr­tau­send der  jet­zi­gen Zeit­rech­nung befin­den, kann ihm das Prä­di­kat „Jahr­tau­send­wein“ als der „aller-rareste und kost­bars­te Wein in die­sem Seco­lo“ nicht abge­spro­chen wer­den. Viel­leicht gelingt es einem der 2018er Wei­ne in die­sen Kreis zu gelan­gen, zu dem auch die 1631er, 1728er und 1783er Würz­bur­ger Stein­wei­ne zäh­len. Aller­dings schei­nen die 2018er Hit­ze und Tro­cken­heit per­fek­te Vor­aus­set­zun­gen zu bieten.

Rückkehr nach 456 Jahren – die Odyssee vom Steinwein

Die wahr­schein­lich letz­te sowie eine lee­re Fla­sche die­ses „ältes­ten trink­ba­ren Wei­nes der Welt­ge­schich­te“ sind am 16. Sep­tem­ber 1996 nach 456 Jah­ren an den Ort ihres Ent­ste­hens zurück­ge­kehrt. Sie sind eine Dau­er­leih­ga­be des deutsch­stäm­mi­gen, eng­li­schen Ehe­paa­res Hen­ry G. und Gwen Simon an das Bür­ger­spi­tal Wein­gut Würz­burg. Die Samm­lung zu der sie gehö­ren besteht aus sechs Fla­schen: Einer des 1822er Johan­nis­ber­ger, zwei des Rüdes­hei­mer aus dem glei­chen Jahr­gang, einer 1857er Rüdes­hei­mer und eben jenen bei­den Fla­schen 1540er Steinwein.

So schließt sich der Kreis die­ser bei­den Fla­schen 1540er Stein­wein, die von ihrer Befül­lung bis zur Schen­kung an das Wein­gut Bür­ger­spi­tal eine wah­re Odys­see hin­ter sich gebracht hat­ten. Die Fami­lie Simon gehör­te vor ihrer Flucht vor den Nazis 1936 nach Lon­don als die ältes­te und hono­rigs­te Wein­händ­ler­fa­mi­lie zur Upper­class der Wies­ba­de­ner Gesell­schaft. In ihrem Besitz befan­den sich die letz­ten zwei 1540er Stein­wei­ne aus dem Wein­kel­ler Lud­wig II., doch weil Fami­lie Simon bei ihrer Flucht nur das Lebens­not­wen­digs­te hat­te mit­neh­men kön­nen, glaub­te man, dass auch die­se Fla­schen, wie das gesam­te Besitz­tum ent­we­der geraubt oder zer­stört seien.

Was sie jedoch kei­nes­wegs waren, weil – und hier wird die Geschichts­schrei­bung natur­ge­mäß vage – weil sie auf „aben­teu­er­li­che Wei­se“ 1937 nach Lon­don geschmug­gelt wor­den waren und seit­her heim­lich in der Wein­hand­lung Ehr­mann & Ehr­mann auf­be­wahrt wur­den. Doch als das Lon­do­ner Wein­ge­schäft zwi­schen dem 7. Sep­tem­ber 1940 und dem 16. Mai 1941 der so genann­ten Luft­schlacht um Eng­land zum Opfer fiel, schie­nen die bei­den Fla­schen end­gül­tig ver­lo­ren. Bis 1978, als Hen­ry G. Simon zufäl­lig zu Besuch bei einem Cou­sin der Ehr­manns war und dort „sei­nen Stein­wein“ ent­deck­te – sorg­fäl­tig in einem Samm­ler­schränk­chen auf­ge­ho­ben, mit sei­nem Namen und sei­ner ehe­ma­li­gen Adres­se auf der Rück­sei­te ausgezeichnet.

Warum wir diese Geschichte erzählen?

Nun, die wet­ter­be­ding­ten Umstän­de die­ses Jah­res 2018 könn­ten dar­auf schlie­ßen las­sen, dass die Wein-Community auf einen wei­te­ren Jahr­tau­send­wein spe­ku­lie­ren kann. Die Lese der wei­ßen Wein­trau­ben hat am 6. August 2018 begon­nen, wäh­rend man die Roten noch an den Reben lässt. Ob die Wei­ne die von vie­len Medi­en und Wein­lieb­ha­bern erwar­te­te Qua­li­tät errei­chen wer­den, bleibt jedoch abzuwarten.

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