Auch damals war seit März kein nennenswerter Regen gefallen, kurz darauf blühten die Kirschbäume und Anfang Mai bereits die Weinreben in Frankreich und im Süden Deutschlands. Am 24. August dann hatte die Traubenernte begonnen. Es war das Jahr, als sich „die Spätlese selbst erfinden tathe”, wie der Chronist Pierre de Teysseulh schrieb. Er hatte zunächst feststellen müssen, dass die Trauben wie geröstet waren – dunkel und klein wie nach einem heftigen Frost. Die meisten Winzer im Elsass und am Bodensee ließen das vertrocknete Elend einfach an den Reben hängen, während der Kellermeister des Kloster Erbrach in Würzburg einen Teil der Weinlage Stein ernten ließ und „diese merkwürdigen Halbrosinen“ kelterte. Nicht nach einer besonderen Rezeptur, sondern einfach, weil er wissen wollte, ob wohl Trinkbares daraus würde. Und es wurde: die erste Spätlese überhaupt!
Eine Geschichte der Spätlese
Soweit der Historiker, doch ein weiterer Blick in diese Geschichte erklärt auch den Namen „Spät“-lese. Hätte der aufgrund der Umstände doch eigentlich „Früh“-lese heißen müssen. Doch war es so, dass diese erste Lese schon einen phantastischen Wein hervor gebracht hatte und darum die restliche Steinlage nun auch verarbeitet werden sollte. Allerdings verzögerte sich diese Ernte, denn wundersamer Weise hatte es zu regnen begonnen. Und hörte eine ganze Weile nicht auf. Also saugten sich die schon verschrumpelten Weintrauben wieder auf, wurden prall und rund und als die Sonne wieder herauskam, erlangten sie eine Restsüße, wie die Weinwelt sie noch nicht erlebt hatte.
Das war im September 1540 und was die Würzburger Mönche dann einfuhren, war als Wein noch edler, noch runder, noch besser als die erste 1540er vom Stein Spätlese. Dass die Bezeichnung Spätlese sich trotz der damals so ungewöhnlichen Umstände erhalten konnte, ist der heutigen Methode der späten Lese zuzurechnen. Dabei bleiben die Trauben so lange am Stock, bis die letzte Herbstsonne ihnen das Maximum an Süße verliehen hat.
Doch zurück ins Jahr 1540…
…und noch einmal hinein in die Weinberge: Aufgrund der Hitze trugen die Obstbäume und -sträucher keine Früchte, waren die Felder vertrocknet, die Ernten dezimiert und Bäche und Quellen waren schon im Juni trocken gefallen. Doch dienten die Flüsse ja nicht allein als Reservoir für Trink- und Waschwasser, sondern waren zudem wichtige Handelswege für die Transporte der Waren und auch somit unerlässlich für eine florierende Wirtschaft. Fazit: Es ging den Menschen Mitteleuropas im Jahre 1540 nicht gut.
Da war man froh, dass wenigstens die Weintrauben noch hingen, wenn man sie auch nur zum Mosten pflückte. Der Most kippte jedoch schneller als man ihn trinken konnte und so liest sich eine Beschreibung des Advokatus und Bierherrn Hermann von Weinsberg aus Köln wie eine Szenerie von, sagen wir, großer Intensität. Übersetzt ist da die Rede von den süßen Trauben allerorten und von Europa, das sich dem „delierenden Rausche hingegeben“ hatte. Überall prügelten in diesem Sommer die Betrunkenen sich heftig, „Mannslück, Wiever un Frulückcher, janz ejal kundizione wie Schweine higger d´r Hecken un op d´r Straßen“. Heißt: Männer, Weiber und Frauen, ganz egal, lagen wie Schweine hinter den Hecken und auf den Straßen.
Und im Augustinerkloster zu Wittenberg saß Dr. Martin Luther und schrieb an seine Frau, „dass mirs hie wol gehet: ich fresse wie ein Beheme und saufe wie ein Deudscher, das sey gott gedanckt. Amen.” Dass er dabei in den Genuss eines 1540er vom Stein kam ist möglich, da die Klosterherren ihre Erzeugnisse untereinander austauschten. Der 1540er Stein (in anderen Aufzeichnungen auch „1540er Steingilts“ genannt) wurde schon damals als „göttlicher Trunk“ behandelt. So lagerte man ihn am Hofe zu Würzburg in ungewöhnlich schön verzierten Fässern und hinter einer Wand versteckt ein. Nur hochwohlgeborene Gäste und die Geliebten der Dynastie kamen in seinen Genuss und das auch nur zu ganz besonderen Gelegenheiten.
Ein göttlicher Trunk – auch für den Feind
Davon muss so mancher auch außerhalb der royalen Festung geschwärmt haben, denn die Kunde vom „legendären Stein“ erreichte bald auch Feindesland. Sogar noch im Dreißigjährigen Krieg, 100 Jahre später, waren die Vorräte des 1540er Stein die größten Objekte feindlicher Begierden. Noch im 19. Jahrhundert tauchten Flaschen desselben Weines auf Auktionen auf und wurden dort zu exorbitanten Preisen gehandelt.
Bis heute lagert eine Flasche des 1540er Würzburger Stein in der Schatzkammer des gut 700 Jahre alten Bürgerspital Weingutes in Würzburg. Und da wir uns bereits im dritten Jahrtausend der jetzigen Zeitrechnung befinden, kann ihm das Prädikat „Jahrtausendwein“ als der „aller-rareste und kostbarste Wein in diesem Secolo“ nicht abgesprochen werden. Vielleicht gelingt es einem der 2018er Weine in diesen Kreis zu gelangen, zu dem auch die 1631er, 1728er und 1783er Würzburger Steinweine zählen. Allerdings scheinen die 2018er Hitze und Trockenheit perfekte Voraussetzungen zu bieten.
Rückkehr nach 456 Jahren – die Odyssee vom Steinwein
Die wahrscheinlich letzte sowie eine leere Flasche dieses „ältesten trinkbaren Weines der Weltgeschichte“ sind am 16. September 1996 nach 456 Jahren an den Ort ihres Entstehens zurückgekehrt. Sie sind eine Dauerleihgabe des deutschstämmigen, englischen Ehepaares Henry G. und Gwen Simon an das Bürgerspital Weingut Würzburg. Die Sammlung zu der sie gehören besteht aus sechs Flaschen: Einer des 1822er Johannisberger, zwei des Rüdesheimer aus dem gleichen Jahrgang, einer 1857er Rüdesheimer und eben jenen beiden Flaschen 1540er Steinwein.
So schließt sich der Kreis dieser beiden Flaschen 1540er Steinwein, die von ihrer Befüllung bis zur Schenkung an das Weingut Bürgerspital eine wahre Odyssee hinter sich gebracht hatten. Die Familie Simon gehörte vor ihrer Flucht vor den Nazis 1936 nach London als die älteste und honorigste Weinhändlerfamilie zur Upperclass der Wiesbadener Gesellschaft. In ihrem Besitz befanden sich die letzten zwei 1540er Steinweine aus dem Weinkeller Ludwig II., doch weil Familie Simon bei ihrer Flucht nur das Lebensnotwendigste hatte mitnehmen können, glaubte man, dass auch diese Flaschen, wie das gesamte Besitztum entweder geraubt oder zerstört seien.
Was sie jedoch keineswegs waren, weil – und hier wird die Geschichtsschreibung naturgemäß vage – weil sie auf „abenteuerliche Weise“ 1937 nach London geschmuggelt worden waren und seither heimlich in der Weinhandlung Ehrmann & Ehrmann aufbewahrt wurden. Doch als das Londoner Weingeschäft zwischen dem 7. September 1940 und dem 16. Mai 1941 der so genannten Luftschlacht um England zum Opfer fiel, schienen die beiden Flaschen endgültig verloren. Bis 1978, als Henry G. Simon zufällig zu Besuch bei einem Cousin der Ehrmanns war und dort „seinen Steinwein“ entdeckte – sorgfältig in einem Sammlerschränkchen aufgehoben, mit seinem Namen und seiner ehemaligen Adresse auf der Rückseite ausgezeichnet.
Warum wir diese Geschichte erzählen?
Nun, die wetterbedingten Umstände dieses Jahres 2018 könnten darauf schließen lassen, dass die Wein-Community auf einen weiteren Jahrtausendwein spekulieren kann. Die Lese der weißen Weintrauben hat am 6. August 2018 begonnen, während man die Roten noch an den Reben lässt. Ob die Weine die von vielen Medien und Weinliebhabern erwartete Qualität erreichen werden, bleibt jedoch abzuwarten.
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.
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