Auf diesem Weingut mit immerhin 14 Hektar Rebfläche gibt es keinen Traktor. Man könnte damit auch gar nichts anfangen, denn die Zugmaschinen können auf den schmalen, dem Schiefer abgetrotzten, durch ein Netz von kleinen Kanälen (agouilles) drainierten Terrassen von Collioure und Banyuls nicht eingesetzt werden.
Und so muss, von der Lockerung des Bodens im Frühjahr bis zur Lese im Herbst, alles in Handarbeit erledigt werden. So einfach ist das – und so schweißtreibend, denn im Sommer wird es hier, wenige Kilometer von der spanischen Grenze entfernt, ziemlich heiß.
Banyuls und Collioure sind die südlichsten Weinanbaugebiete Frankreichs. Sie liegen innerhalb der gleichen Grenzen und gehören zu Roussillon. Collioure steht vor allem für schwere, trockene Rotweine, Banyuls für süße, alkoholverstärkte Weine: überwiegend rot, teilweise aber auch weiß.
Viel Sonne, wenig Feuchtigkeit
Die Weine werden überwiegend aus der Grenache-Rebe erzeugt: die weißen aus der Grenache Blanc, die Roten aus der Grenache Noir. Dazu kommen meist kleinere Mengen Carignan, Cinsaut, Mourvèdre, Syrah. Nur solche Rebstöcke überleben, die die Kraft haben, ihre Wurzeln in die Risse und Spalten des Unterbodens hineinzutreiben.
Die dünne Schicht Deckerde speichert nicht genügend Feuchtigkeit. Mehr als vier bis fünf Trauben pro Stock können allerdings nie zur Reife gebracht werden. Zu extrem sind Hitze und Trockenheit im Sommer.
Vor dem Ersten Weltkrieg zog diese Landschaft aufgrund ihrer pittoresken Schönheit viele französische Künstler an, allen voran Picasso, Braque, Utrillo und Matisse, von dem der Spruch überliefert ist, es gebe in Frankreich keinen blaueren Himmel als in Collioure, und er brauche nur die Fensterläden zu öffnen, schon habe er alle Farben des Malkastens vor sich.
Picasso zahlte sein Hotel mit Kunst
Besonders beliebt war bei den Künstlern die Hôstellerie des Templiers. Wenn sie kein Geld hatten, durften sie ihre Rechnungen dort mit Kunst bezahlen. Mal ließen sie Zeichnungen, mal kleine Bilder zurück. Noch heute sind einige dieser „Zahlungsmittel“ in dem kleinen Familienhotel mitten in dem malerischen Fischerstädtchen Collioure zu besichtigen.
Auf der Domaine La Tour Vieille oberhalb von Collioure hat man nichts zu verschenken. Da muss man für seinen Lebensunterhalt hart arbeiten. Vincent Cantié und Christine Campadieu, die beiden Besitzer des Weinguts, wissen das. Sie sind keine Matisses, keine Braques, keine Picassos, und für Weine aus dem Roussillon werden sowieso keine Preise wie für moderne Kunst gezahlt. Im Gegenteil: Gemessen an dem, was die Spitzendomänen im Burgund und an der Rhône für ihren Wein bekommen, sind Christine und Vincent bescheidene Leute.
In der ersten Reihe der Roussillon-Winzer
Dabei haben auch sie sich in die erste Reihe der Winzer im Roussillon hochgearbeitet. Ihre Rotweine Puig Oriol und Puig Ambeille gehören zum Feinsten, was Südfrankreich hervorbringt. Und die süßen Vins Doux Naturels sind ebenfalls von einer Exquise, die selten geworden ist. „Außergewöhnliche Qualitäten“ attestierte die führende französische Fachzeitschrift Revue du Vin de France den Weinen von La Tour Vieille.
Cantié, 58, ist das, was man in Deutschland als Alt-68er bezeichnet: freiheitsliebend, leicht rebellisch, studentenbewegt in seiner Jugend und heute angesichts des achtlosen Umgangs der Menschen mit den begrenzten Ressourcen bis tief in der Wolle grün gefärbt.
Einen schöneren Arbeitsplatz als hoch oben über dem Städtchen am Mittelmeer hätte er sich für seine Zivilisationskritik freilich nicht aussuchen können. Nach Osten fällt sein Blick bei der Arbeit auf das malerische Fischerstädtchen zu seinen Füßen mit den engen Gassen, den zahllosen Cafés und Restaurants, die im Sommer von Tausenden von Touristen frequentiert werden, in der Ferne La Grande Bleue, das azurblaue Mittelmeer. Nach Westen blickt er auf die Weinbergterrassen mit ihren alten, knorrigen Rebstöcken in graubrauner oder rostroter Erde. Ein Luxuspanorama.
Auch Träume können hart sein
Mit dem Anchovis-Betrieb seiner Eltern wollte Cantié nichts zu tun haben, und mit der Stadt Collioure zunächst auch nicht viel. Er studierte Landwirtschaft und arbeitete dann zwei Jahre als Agraringenieur in Neu-Kaledonien. 1980 kehrte er nach Collioure zurück. Am anderen Ende der Welt war ihm klar geworden, dass er Winzer werden und auf eigene Faust etwas gestalten wollte. Gemeinsam mit einem Freund aus der Bretagne pachtete er von seinen Eltern drei Hektar Land und dazu von Nachbarn fünf weitere Hektar, um seinen Traum vom Winzerdasein zu verwirklichen. Doch ein paar Jahre später entschied sich der Freund, Lehrer zu werden, und stieg wieder aus.
Dafür war Christine dazu gestoßen, eine Winzerstochter aus dem benachbarten Banyuls, die Englisch und Chinesisch studierte und für die Winzervereinigung des Roussillon PR gemacht hatte. Den Winzerberuf hatte die junge, selbstbewusste Frau nicht angestrebt. Doch schon bald hatte sie das Gefühl, mit Vincent und La Tour Vieille festen Boden unter den Füßen zu haben. Zuerst legten die beiden ihren in 16 verschiedene Parzellen aufgesplitterten Besitz zusammen. Dann füllten sie 1990 ihren ersten gemeinsamen Jahrgang ab. Christine war (und ist) für Keller und Vermarktung zuständig, Vincent für die Weinberge.
Bio-Winzer ohne Ansage
Von Anfang an strebten die beiden danach, im Weinberg nach biologischen Standards zu arbeiten (auch wenn sie das auf ihren Etiketten ihrer Weine nicht erwähnen). Die Natur begünstigte sie dabei. Die Tramontane, der vom Festland zum Meer hin wehende starke Wind, sorgt dafür, dass es in Collioure wenig Pilzbefall gibt. Spritzen ist überflüssig. Allerdings verursacht der Wind manchmal auch Probleme – zum Beispiel, wenn er die jungen Triebe der starkwüchsigen Mourvèdre-Rebe förmlich von den Stöcken fetzt.
Die Tramontane ist auch für die relativ hohen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht verantwortlich, die in Collioure herrschen. Durch sie bleiben die Rotweine frisch, erhalten ihre feine Nuancierung und Würze. Trotz der südlichen Lage schmecken sie nicht brandig, sondern sind dicht, mineralisch, ja sogar mentholig-frisch.
Die Erträge im Weinberg liegen zwischen 30 und 35 Hektoliter/Hektar – also extrem niedrig. Folglich sind auch die Mengen, die La Tour Vieille produziert, nicht sehr hoch. Vom Puig Oriol und vom Puig Ambeille gibt es jeweils nur 8.500 Flaschen. Die Vins Doux Naturels sind noch rarer.
Rückgang der Vins Doux Naturels
Allerdings geht die Nachfrage nach diesen natursüßen Weinen sowieso stark zurück. Die Zeit der plüschigen Cafés, in denen die älteren Damen nachmittags zu Törtchen oder Mandelgebäck ganz selbstverständlich ein Gläschen Banyuls (oder Maury oder Rivesaltes) zu sich nahmen und damit für stetigen Absatz sorgten, ist vorbei. Es gibt die Vins Doux Naturels als Weißweine (Banyuls blanc, gekeltert vorwiegend aus der Sorte Grenache banc) und als Rotweine (Banyuls, gewonnen aus Grenache Noir).
Dabei wird die Gärung nach einem im Mittelalter von Arnaldus de Villanova, dem Leibarzt des Königs von Mallorca, entwickelten Verfahren durch Zugabe von reinem Alkohol gestoppt, sodass ein Teil des im Most befindlichen Zuckers nicht vergärt und der Wein süß bleibt. Einen Teil ihrer Reifezeit verbringen die Banyuls danach in Glasballons (bonbonnes), die im Freien stehen und Sonne und Wind ausgesetzt sind. Dadurch erhalten diese Weine ihren leicht oxidativen, „ranzigen“ Geschmack. Geschätzt werden sie nur noch von Kennern, die sie als Aperitif, zu Anchovis, zu Roquefort oder zu süßen Nachspeisen genießen.
Die trockenen und die natursüßen Weine müssen, wenn sie von hoher Qualität sein sollen, der Natur förmlich abgerungen werden. Vincent und Christine haben sich entschlossen, diese Herausforderung anzunehmen. Angesichts dessen sind die Weine von La Tour Vieille äußerst preisgünstig.