Soviel vorweg: 2019 war ein sehr guter Weinjahrgang. Er hat exzellente Weine hervorgebracht, die – summa summarum – einen Vergleich mit den 2018ern nicht zu scheuen brauchen. Das heißt nicht, dass jeder Winzer und jede Region ein gleich hohes Niveau erreicht haben wie der Vorgängerjahrgang. Der größte Unterschied: 2019 war ein Jahrgang, der die Winzer herausgefordert hat.
Hitze, Trockenheit und Verrieselungsschäden
Erstens waren die Temperaturen wochenlang sehr hoch, was den Reifeprozess enorm beschleunigt hat, aber auch vielfach zu Sonnenbrand der Trauben geführt hat. Baden verzeichnete Temperaturen von über 40° Celsius. Ein Teil der roten Trauben entwickelte Kocharomen und musste ausgesondert werden. Zweitens die Trockenheit. Sie hat zwar dazu geführt, dass die Beeren klein blieben. Aber viele Reben haben gelitten, vor allem solche in skelettreichen, gut drainierten Böden. Am besten überstanden haben die Trockenheit alte Rebstöcke und solche, die auf wasserspeichernden Böden stehen. Im Rheingau beendete Starkregen die Trockenheit, was ebenfalls Probleme verursachte. In anderen Gegenden wurde die Trockenphase von moderaten Regenfällen gemildert. Drittens: Regen – zu viel Regen – gab es dann in der letzten Reifephase, in der teilweise schon gelesen wurde. Das bedeutete, dass die Trauben innerhalb sehr kurzer Zeit eingebracht werden mussten. Mehr noch: nassfaules Lesegut musste aufwendig aussortiert werden. Lesestress pur. Viertens: Das feucht-kalte Klima während der Blüte hatte im Frühjahr schon zu erheblichen Verrieselungsschäden geführt. Zusammen mit den Verlusten bei der Lese verzeichnet der Jahrgang dann eine um 25 bis 30 Prozent geringere Erntemenge im Vergleich zum Vorjahr, was die Winzer entsprechend beklagen. Aber es ist ein Jammern auf hohem Niveau. In 2018 lagen die Mengen weit über dem Durchschnitt.
14 Prozent höherer Konsum an deutschem Wein
Da die 2019er Weine bereits seit einem halben Jahr auf dem Markt sind und die meisten Weintrinker sie längst probiert haben, spare ich mir weitere Kommentare zu den Wetterkapriolen. Den Konsumenten scheinen die Weine zu schmecken. Der Nielsen Homescan Panel hat einen um 14 Prozent höheren Absatz an deutschem Wein in der Zeitspanne von April bis Juni im Vergleich zum Vorjahr registriert. Wenn die 2019er Weine ungenießbar wären, hätten die Menschen ihnen nicht so ausgiebig zugesprochen. Der Anstieg geht natürlich nicht nur auf den Jahrgang 2019 zurück, aber er dürfte eine entscheidende Rolle gespielt haben. Roséweine, die in aller Regel jung getrunken werden und deshalb vermutlich aus 2019 stammen, nahmen um 29 Prozent zu.
Die Großen Gewächse sind das i-Tüpfelchen eines jeden Jahrgangs
Nicht einbezogen sind in dieser Statistik mit Sicherheit die Großen Gewächse (GG) des neuen Jahrgangs. Sie dürfen nämlich erst ab 1. September verkauft werden. Vorher hat sie niemand probiert außer den Winzern – und außer rund 150 ausgesuchten Weinhändlern, Sommeliers und Journalisten, die sie in einer Art „Vorpremiere“ schon in der letzten Augustwoche degustieren durften. Dazu läd der Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) jedes Jahr nach Wiesbaden in die Kurkolonaden ein. Da ich zu den Auserwählten gehöre, möchte ich Ihnen, liebe Weinkenner, hier über meine Eindrücke von den GG des Jahrgangs 2019 berichten.
Die GG sind das i-Tüpfelchen im Sortiment jedes VDP-Winzers: das Beste vom Besten eines Weinjahrgangs (sollte es zumindest sein). Tatsächlich sind es sehr gute, manchmal auch grandiose Weine, die die Winzer 2019 auf die Flasche gebracht haben. Aber sie sind ganz anders als der heiße Jahrgang es vermuten lässt. Sie besitzen nämlich erstaunlich hohe Säuren. „Trotz des reifen Leseguts waren die Säurewerte erfreulich rassig“, berichtet Carl von Schubert vom Weingut Maximin Grünhäuser an der Mosel. Wie war das möglich angesichts der hohen Temperaturen? Cornelius Dönnhoff von der Nahe sagt: „Es waren die kühlen Nächte, die verhindert haben, dass die Säure absinkt.“ Ein ähnliches Resumé kommt aus Franken: „Durch die kühleren Nächte im Spätsommer sind die Weine dicht und die Säurestruktur gut“, kommentiert Robert Haller vom Bürgerspital in Würzburg den Jahrgang. Ein großer Jahrgang? „Absolut“ glaubt Haller. Tatsächlich wirken viele fränkischen Silvaner so, als hätten sie die Säure eines Rieslings. Mögen die fränkischen Silvaner im Moment auch schwierig zu trinken sein, so werden sie eines Tages – da bin ich mir sicher – mindestens so gut sein wie die 2010er heute. Ich werde in den nächsten Wochen an dieser Stelle noch detailliert auf die GG aus Franken eingehen.
Pikante Säuren, gut abgepuffert
Für die Weingenießer kommt es, genau genommen, gar nicht so sehr auf die Höhe der Säure an, sondern auf ihre Zusammensetzung. Wichtig ist ein hoher Anteil an reifer Weinsäure. Klaus-Peter Keller aus Rheinhessen schrieb mir zum Jahrgang 2019: „Die Kombination aus kleinen Erträgen, hoher, aber reifer Säure und hohem Extrakt gibt es nicht allzu häufig.“ Der Extrakt, bedingt durch die geringen Erträge und die hohe Reife, hat seine Weine (ebenso die seines Nachbarn Wittmann aus Westhofen, dessen Weine in Rheinhessen ebenfalls “Leuchttüme” sind) wirkungsvoll abgepuffert. Sie sind perfekt balanciert. Das gilt für Kellers Morstein, seinem einzigen Riesling GG, das bei der “Vorpremiere” präsentiert wurde. Obwohl in Wiesbaden nicht angestellt, hatte ich Gelegenheit, drei weitere seiner 2019er GG vom Riesling zu probieren (die bei Keller traditionell erst im nächsten Frühjahr freigegeben werden). Der Hubacker aus Dalsheim ist extrem engmaschig, kompakt, von gelbfleischigen Aromen und rauchiger Mineralität geprägt sowie von einer pikanten Säure durchzogen, die in süßen, leicht ins Exotische gehenden Fruchtschmelz eingehüllt ist, so dass der Wein nie herb schmeckt, sondern eher weich über den Gaumen läuft: Hohe Schule 2019. Etwas anders der Abts E vom Kalksteinriff in Westhofen, eine Lage, in der die Reben dank unterirdischer Wasserspeicher die Hitze gut überstanden haben: ebenfalls sehr dicht gewoben, aber eleganter, gleichzeitig hochmineralisch mit dezenten Spontangärungsnoten und kühler, intellektueller Frucht – ein ganz großer Wurf in 2019.
„Der Boden wichtiger als Licht und Wärme“
Das Sahnehäubchen des Keller’schen Sortiments – vielleicht auch das Sahnehäubchen auf der gesamten deutschen Rieslingproduktion – ist der G-Max: ein rarer Wein von ältesten Reben, deren genauen Standort die Kellers nicht preisgeben, weil sie fürchten, dass die Trauben sonst bei Nacht und Nebel geklaut werden könnten. Der 2019er G-Max ist, wie sein Preis suggerieren könnte (aktuell zwischen 1000 und 2000 Euro pro Flasche gehandelt), kein Blockbuster, kein Riesling mit breiten Schultern, sondern ein geschmeidiger, sehniger Wein mit nur wenig mehr Körper als der Abts E, aber extremer Finesse und einer ganz natürlichen, fast seidigen Säure. Der 2019er wird als ganz grosser Wein in die Annalen eingehen. Leider ist er in diesem Jahr noch rarer als sonst. In seiner Mail schrieb Klaus-Peter Keller: „Man schmeckt mehr das, was durch die tiefen Wurzeln aufgenommen wird, als das Licht und die Wärme des Jahrgangs. Es wird rauchiger und vielschichtiger.“ Ich verzichte hier auf die Punkt-Bewertung der drei Weine, weil sie außerhalb der Wiesbadener „Vorpremiere“ verkostet wurden und noch nicht offiziell im Handel sind. Aber wenn ich eine Bewertung abgeben müsste, würde sie mit Sicherheit nicht niedrig ausfallen.
Ein GG mit 11,5 Vol.% Alkohol – gibt’s das?
Ein anderer Riesling, der mich sehr beeindruckt hat, ist Gunderlochs GG vom Rothenberg. Das Besondere an diesem Wein ist, dass er nur 11,5 Vol.% Alkohol aufweist – für ein GG ungewöhnlich niedrig, eigentlich unmöglich. Fast alle anderen GG vom Roten Hang haben 13 Vol.%. Johannes Hasselbach, der Winzer, berichtet, dass er einen Teil seiner Trauben früh geerntet, den anderen länger hängen gelassen und am Ende beide Partien später miteinander verschnitten hat. So findet man in diesem Wein einerseits die prallen Rieslingaromen wieder, wie man sie von einem GG erwarten kann, andererseits grüne, apfelige Noten mit einer markanten Säure. Das Verwunderliche ist, dass die Zuckerwerte während der längeren Hängezeit nicht gestiegen sind. Resultat: ein Alkoholgehalt so niedrig wie ein trockener Kabinett von der Mosel. Hasselbach ist selbst erstaunt, dass die Schere zwischen Zuckerreife und physiologischer Reife in 2019 nicht weiter aufgegangen ist. Natürlich, der niedrige Alkoholgehalt allein macht nicht die Qualität eines GG aus. Es sind vielmehr der Spannungsbogen und der Facettenreichtum, die dieses Leichtgewicht unter den GG auszeichnen. Die geschmackliche Komplexität fördert beim Rothenberg auch die besondere Vinifikationsmethode, die Hasselbach seit einigen Jahren praktiziert. Er vergärt einen kleinen Teil des Mostes nicht im Keller, sondern direkt im Weinberg. Die Idee: mehr Weinbergshefen für die Fermentationsprozess zu nutzen und so einen noch individuelleren, authentischeren Wein zu bekommen. Einen zusammenfassenden Bericht der rheinhessischen GG wird in den nächsten Wochen an dieser Stelle von Sebastian Bordthäuser erscheinen.
Umstrittener Heymann-Löwenstein
Tolle Qualitäten habe ich in 2019 auch an der Mittelmosel gefunden, allen voran bei Fritz Haag und Schloss Lieser. Etwas weniger begeistert war ich dafür von den Saar-Rieslingen. Die Weine haben nach meinem Empfinden nicht ganz das mitreißende Temperament der 2018er, von Ausnahmen abgesehen. Ich erwähne hier mal eine: von Othegraven mit seinem GG vom Altenberg. Für Diskussionen unter den Verkostern sorgten die GG Heymann-Löwensteins von der Terrassenmosel. Die einen bezeichneten sie als genial, die anderen als Katastrophe. Seine GG vom Blaufüsser Lay und vom Laubach sind so goldgelb wie das Herbstlaub auf luftigen Terrassen hoch über der Mosel, stark gerbig, teilweise etwas unfrisch. Sie weisen – bedingt durch die langsame, viele Monate dauernde Gärung mittels weinbergseigener Hefen – zahlreiche schräge Nebentöne auf. Untrinkbar, würde ich sagen. Doch seinen Spitzenwein, den Roth Lay, präsentierte Reinhard Löwenstein ebenfalls, und zwar den 2018er, der jetzt erst freigegeben wird. Bei diesem GG blitzt schon ein bisschen von der Klasse der Heymann’schen Kreszenzen auf: die Fülle, die Exotik, die Rasse. Schon ein Jahr mehr Reife macht einen riesigen Unterschied aus. Wer einen Montrachet, einen der teuersten Weißweine der Welt, jung trinkt, erschrickt zunächst auch. Gemessen an dem, wie sich dieser Wein nach fünf, zehn oder mehr Jahren präsentiert, wirkt er anfangs geradezu banal. Ich stelle den Roth Lay nicht auf eine Stufe mit einem Montrachet. Aber Weintrinker, die Spektakuläres wollen, müssen Geduld aufbringen. „Moseltypisch“ sind die Weine von Heymann-Löwenstein sicher nicht, wie manche Verkoster bemängelten. Aber ist das ein Nachteil? Seit die Römer vor 2000 Jahren die ersten Reben an die Mosel brachten, hat es niemand geschafft, solche Weine wie Reinhard Löwenstein zu erzeugen.
Es ließe sich noch viel über die Nahe sagen, wo das Schloßgut Diel diesmal mit großartigen GG überrascht. Über den Rheingau (nicht sonderlich inspirierend), über die (heterogene) Pfalz und über einige grandiose Chardonnays aus Baden. Wir werden in der nächsten Zeit über alle diese Gebiete auf weinkenner.de berichten. Und über die GG vom Spätburgunder, die zwar nicht aus dem Jahrgang 2019, sondern aus 2018, 2017 oder 2016 stammen, aber teilweise mit Qualitäten aufwarten, wie es sie in Deutschland bisher noch nicht gegeben hat.
Der teuerste Riesling ist gleichzeitig auch der Beste. So ein Zufall. Vermisst habe ich in den generellen Anmerkungen zu den GG ein Wort zu der unsäglichen Flut neuer GG-Lagen. Heute scheint ja nahezu jeder Weinberg GG-tauglich zu sein. Oder geht es nur um Absatz?