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Die Frust- und Lustweine eines bekennenden Weinsnobs 2015

Sicher, es ist eine persönliche Abrechnung, die ich hier am letzten Tag des Jahres vornehme. Sie reflektiert, was ich in den vergangenen 365 Tagen an Weinen getrunken oder probiert habe. Sie reflektiert aber auch meine persönlichen Vorlieben und Abneigungen. Andere Menschen würden vermutlich andere Maßstäbe setzen und folglich andere Weine in ihre Top & Flop-Liste eintragen.

Für ein längeres Leben konzipiert

Die Weine, die ich nicht nur getrunken, sondern mit denen ich mich auseinandergesetzt habe, gehören allesamt in die Kategorie der gehobenen Qualitäten. Also zur Klasse derjenigen Weine, die aufwendig produziert wurden und für ein längeres Leben konzipiert sind. Weine also, die ihren Preis haben. Ich habe Lust und Frust auch mit anderen Weinen erlebt, mit Guts-Rieslingen, Proseccos, Grünen Veltliner der einfachen und der gehobenen Art, mit Schwergewichten aus Kalifornien und Wichtigtuern aus der Toskana und aus Spanien. Sie alle könnte man sezieren und kategorisieren.

Mir haben aber die schönsten und die ärgerlichsten Momente im vergangenen Jahr reife Weine beschert. Die Stunde der Wahrheit schlägt bei den teureren, anspruchsvolleren Weinen erst nach ein paar Jahren. Haben sie sich verbessert? Oder fiel ihre Entwicklungskurve nach unten ab? Lebt der Mythos noch oder schlägt die anfängliche Begeisterung in Ernüchterung um? Gar in Frust?

Enttäuschungen gibt es in vielerlei Art

Lust- und Frustweine 2015
Lust- und Frustweine 2015

Enttäuschungen gibt es bei High End-Weinen in vielfältiger Form. Die einen sind gut, aber nicht gut genug angesichts des Anspruchs, den sie haben. Bei anderen steigern hohe Bewertungen durch die internationale Weinkritik die Erwartungshaltung, was dann schnell in Enttäuschung umschlägt, wenn sich die 99 Punkte als schlappe 89 erweisen. Auch der Preis des Weins spielt eine Rolle. Hat man viel gezahlt für eine Flasche, möchte man auch viel zurückbekommen. Charles Baudelaire hat gesagt: „Der Wein wandelt den Maulwurf zum Adler.“ Leider kann es auch umgekehrt sein.

Enttäuschung auf hohem Niveau, werden viele sagen. Das stimmt nur bedingt. Ich ziehe einen einfachen funktionierenden Wein einem flügellahmen Adler vor. Umso größer ist das Vergnügen, wenn die hohe Erwartungshaltung übertroffen wird. Das Glück habe ich in 2015 ein paar Mal gehabt. Mehr noch: Zu der Lust gesellte sich in diesen Momenten immer auch eine Erkenntnis. Etwa die, dass Genießen-Können nicht unbedingt etwas mit Weinwissen zu tun hat. Oder die, dass kumuliertes Weinwissen nicht vor Überraschungen schützt – positiven wie negativen.

Frustwein 1

1999 Rioja „Viña El Pison“, Artadi

1999 Rioja Viña El PisonDer Top-Wein dieses Weinguts, gewonnen aus Trauben einer 600 Meter hoch gelegenen Parzelle mit uralten Reben an den Hängen des Cantabrischen Gebirges. Regelmäßiger 100-Punkte-Kandidat, von Tim Atkin gerade zum besten Rioja auserkoren, von Parker 2007 zum besten spanischen Wein überhaupt erklärt. Für den 1999er kann das nicht gelten. Er ist dicht gewoben, aber dumpf, ja derb, ohne Frucht, ohne Süße. Ein blasser Wein. Die burgundischen Aromen, die Parker diesem Jahrgang attestiert, kann ich nicht entdecken. Okay, 1999 war kein großer Jahrgang in der Rioja. Aber gibt es heute überhaupt noch schlechte Jahrgänge? Selbst in kühlen und verregneten Jahren wird  bei Spitzenweingütern wenigstens eine kleine Menge Wein abgefüllt, der hohen, manchmal sogar höchsten Ansprüchen genügt. Siehe Bordeaux 2012 und 2013. Nicht so bei Artadi. Mit den 2000er und dem 2001er hat dieser Jahrgang wenig zu tun, ganz zu schweigen vom genialen 2010er. Eine herbe Enttäuschung.

Frustwein 2

2006 Meursault 1er Cru „Les Charmes“, Pierre-Yves Colin-Morey

2006 Meursault 1er Les CharmesWer häufig weiße Burgunder trinkt, ahnt vielleicht schon, was an diesem Wein nicht stimmte. Eine merkwürdige Unfrische legt sich wie ein firner Film über diesen Premier Cru, obwohl er noch nicht einmal zehn Jahre alt ist. Gute Meursaults blühen nach zehn Jahren erst richtig auf. Auch war es nicht nur eine Flasche, die diesen Defekt aufwies. Eine zweite schmeckte genauso. Auch der einfache Village Meursault von Colin-Morey erwies sich ebenfalls als nicht trinkbar. Ärgerlich für einen, der 70 Euro pro Flasche gezahlt hat und den Inhalt dann im Ausguss entsorgen muss. Oxydative Unfrische bei weißen Burgundern ist ein bekanntes Phänomen. Es taucht auch bei Weinen anderer Erzeuger auf. Unlängst war in der Revue des Vins de France ein langer Artikel über die vorzeitige Alterung der Weine von der Côte de Beaune zu lesen. Viele Theorien wurden da diskutiert. Die einfachste und sicher falscheste ist, dass die Weine zu wenig geschwefelt seien. Die unglaubwürdigste ist, dass die Kalk- und Lehmböden der Côte de Beaune Schuld an der Misere sind. Dann müssten alle Meursaults, Puligny-Montrachets und so weiter an der Krankheit leiden – was sie definitiv nicht tun. Die dritte Theorie erscheint mir als Weintrinker die plausibelste: Die Hefe wurde zu oft aufgerührt. Richtig ist, dass die Bâtonnage eine wichtige Rolle spielt im Burgund. Und richtig ist auch, dass mit ihr oft übertrieben wird. Aber einem renommierten Winzer – und das ist Pierre-Yves Colin-Morey – dürfte so was nicht passieren. „Der letzte Gedanke, mit dem ich täglich ins Bett gehe, ist: Woher kommt es, dass bei unseren Weinen immer wieder diese Unfrischen auftauchen?“ bekannte Pierre-Yves vor ein paar Jahren, als wir uns in St. Moritz trafen. Und er fügte gleich hinzu: „Mein erster Gedanke morgens gilt demselben Problem.“ Sei’s drum: weiße Burgunder zu kaufen, ist nach wie vor ein Roulettespiel.

Frustwein 3

1982 Château Haut-Brion

1982 Château Haut-BrionGroßer Jahrgang, auch wenn Haut-Brion in 1982 sicher nicht der Klassenbeste war. Das Positive vorweg: Der Wein zeigte keine Spur von Oxydation, ist frisch und sehr würzig. Doch am Ende fehlt dem Wein die Komplexität und die Tiefe, die bei großen Bordeaux erwartet werden darf, wenn sie mit über 600 Euro pro Flasche gehandelt werden. Dieser Haut-Brion ist ein Wein von surrealer Leichtigkeit. Er mag elegant und durchaus genussvoll zu trinken sein. Aber von den Latour, Léoville-Las-Cases, Margaux aus 1982 ist er Lichtjahre entfernt. An der Flasche kann es nicht gelegen haben. Sie lagert seit 35 Jahren in meinem Keller. Und an schlechter Tagesform meinerseits auch nicht. Ich trank den Wein nämlich mit mehreren Freunden in Südfrankreich. Begeisterung kam bei Niemandem auf.

Frustwein 4

1996 Montes Alpha M, Montes

1996 Montes Alpha MDer M von Montes Alpha war der erste Super Premium-Wein Chiles. Mit diesem Wein wollte Aurelio Montes zeigen, dass Chile in der Spitze Weine erzeugen kann, die mit den großen europäischen und kalifornischen Cabernet Sauvignons auf Augenhöhe sind. Ich weiß nicht, ob der Vergleich sinnvoll – oder besser: fair – ist. Tatsache ist, dass der 1996er Montes Alpha M schon nach 20 Jahren so mausetot ist, wie ein Wein nur tot sein kann. Eine Mumie, der kein Schönschreiber mit salbungsvollen Worten wieder Leben einhaucht. Eine zweite und eine dritte Flasche waren in demselben unlebendigen Zustand. Schade. Der 1996er war der erste Jahrgang, in dem dieser Wein erzeugt wurde und damals eine Sensation: niedrigste Erträge, händische Lese, alte Rebstöck, Hanglage. Und der Preis war mit rund 50 Mark ungeheuerlich für einen chilenischen Rotwein.
Ich erinnere mich, diesen Montes Alpha M erstmals auf dem Weingut in Colchagua getrunken zu haben. Das war 1999. Der Wein war beeindruckend. Wenn ich hinterher zwei Tage krank im Bett lag, so lag das an der Empanada, die man mir oben auf einer Terrasse an dem Hang, an dem die Reben stehen, gereicht hatte. Zur Stärkung nach einem langen Probentag. Ich vermute, die Fleischfüllung war nicht gut. Aber der Wein war exzellent.
Bis heute bin ich ein großer Fan des Montes Alpha M. Ich liebe die Kraft und Konzentration des Weins, das ultrafeine Tannin, die tiefen Cassis- und Minzenoten, die er zeigt. Die Traubenzusammensetzung hat sich gegenüber damals nicht groß geändert. Nach wie vor dominiert die Cabernet Sauvignon mit 80 Prozent in ihm. Hinzu gekommen sind lediglich 5 Prozent Petit Verdot (dafür wurde der Merlot-Anteil verringert). Zum Reifen scheint dieser Wein jedoch nur bedingt prädestiniert zu sein. Aurelio Montes hatte seine Alterungsfähigkeit damals mit „über zehn Jahre“ angegeben. Er ahnte wohl, dass „über 20 Jahre“ eine zu kühne Prognose gewesen wäre.

Lustwein 1

2000 Blauer Spätburgunder SJ, Karl-Heinz Johner

2000 Blauer Spätburgunder SJVon diesem Wein hätte ich, als ich ihn kaufte, nicht erwartet, dass er sich so toll entwickelt. Schöne Frucht, feine Würze, lebendige Säure, perfekte Balance – selten habe ich einen deutschen Rotwein so genossen wie diese Spitzenselektion vom Kaiserstuhl. Auch wenn er seinen Höhepunkt schon leicht überschritten hat, ist er alles andere als eine parfümierte alte Dame mit welkem Charme (wie so viele andere deutsche Spätburgunder schon nach zehn  Jahren). Im Gegenteil: Er ist quicklebendig, ja packend. Noch besser ist übrigens die 2001er Version des SJ. Leider habe ich die leere Flasche beizeiten entsorgt und kann sie hier nicht mehr fotografisch präsentieren.

Lustwein 2

1985 Amarone della Valpolicella Classico Superiore, Giuseppe Quintarelli

1985 Amarone della Valpolicella Classico SuperioreDieser Wein ist kein Unbekannter. In Kennerkreisen wird er hoch gehandelt und genießt allergrößte Wertschätzung – übrigens auch bei denen, die normalerweise keinen Amarone trinken. Giuseppe Quintarelli hat zu Lebzeiten den Status eines Kultwinzers erlangt. Seine Amarone werden heute für 200 Euro und mehr gehandelt. Nach 30 Jahren zeigt sich dieser Wein immer noch in bestechender Verfassung: ziegelrot in der Farbe mit viel Depot, Portweinnase mit Zimt, Nelken, Schokolade, getrockneten Orangenschalen, am Gaumen druckvoll, lang und trotz 15 Vol.% Alkohol nicht bitter, sondern süß. Sicher, ein bisschen welk ist der Wein schon, das aber in seiner besten Form. Quintarelli, der 2012 im Alter von 84 Jahren gestorben ist, hatte mir diese Flasche geschenkt, als ich ihn Anfang der 90er Jahre besuchte. Es war Winter, der Keller war eiskalt. Seine Tochter füllte den Wein mit altmodischen Syphonen von Glasballons (in denen Quintarelli seine Amarone aufbewahrte) in Flaschen ab, seine Frau etikettierte die Flaschen von Hand. Beide trugen Mäntel und Handschuhe und hätten gern Feierabend gemacht. Denn es war schon spät. Aber der alte Meister war gnadenlos. Feierabend war erst, als er mich gegen 20 Uhr aus dem Keller entließ. Heute führt seine Tochter den Betrieb weiter. Ich weiß nicht, ob ich ihr noch einmal unter die Augen treten kann.

Lustwein 3

2005 Meursault-Perrieres, Domaine Roulot

2005 Meursault-PerrieresBurgund at its best: Nach all dem Hype um deutsche Rieslinge kommt in mir regelmäßig Sehnsucht nach einem guten weißen Burgunder auf, vorzugsweise einem Meursault. Leicht ist es nicht, einen solchen zu finden. Denn nicht überall, wo Meursault draufsteht, ist ein guter Wein drin (siehe Frustweine). Auch wenn es in der gleichnamigen Gemeinde keine Grands Crus, sondern nur Premiers Crus  gibt, liebe ich die elegante Art und die seidige Textur der Weine dieser Appellation. Und der Meursault-Perrières von Roulot kommt dem Idealbild sehr nahe: viel Feuerstein und Austernschalen, im Hintergrund Anklänge von Grapefruit mit einem Hauch von Kräuterbutter. Bemerkenswert ist die Frische, die dieser Wein bewahrt hat. Dahinter steckt natürlich ein Plan. Die Trauben werden etwas früher gelesen als in der Vergangenheit, auf den biologischen Säureabbau wird verzichtet (oder er wird nur teilweise durchgeführt). Das Burgund hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Die Weine werden so nicht auf Schwere getrimmt, sondern bleiben bei aller Dichte geschmeidig. Die Mineralik, ihr Wahrzeichen, schlägt so noch stärker durch – jedenfalls bei diesem Premier Cru: ein großer Weißwein aus einer (zu Recht) berühmten Domaine, preislich leider im obszönen Bereich.

Lustwein 4

1988 Barbaresco Riserva „Santo Stefano di Neive“, Bruno Giacosa

1988 Barbaresco Riserva „Santo Stefano di Neive“Dass die Barolo und Barbaresco von Bruno Giascosa zu den besten im Piemont gehören, ist keine Neuigkeit. Aber dass sie auch nach fast 30 Jahren so gut im Glas stehen wie dieser Barbaresco, ist schon mal eine kurze Erwähnung wert. Sicher, man hätte diesen Wein auch schon vor zehn oder 20 Jahren mit großem Genuss trinken können. Aber jetzt erst zeigt er diese einzigartige Aromenmixtur von getrockneten Pflaumen, Malz, Herbstlaub, Trüffel und einem Hauch von Beerenkonfitüre, die kein anderer Wein der Welt aufweist. Reif und süß läuft er über den Gaumen mit festem, aber weichem Tannin – ein unverwechselbarer Geschmack. Mehr noch: Ich habe die Flasche am ersten Tag nicht ganz ausgetrunken, sondern die Hälfte stehengelassen, um den Wein dann jeden Tag nachzuprobieren. Am vierten Tag schmeckte er am besten, meinte ich zu erkennen. Von Oxydation jedenfalls keine Spur. Ein besseres Zeugnis kann man einem Wein nicht ausstellen. Von der Lage Santo Stefano di Neive gibt es heute nur noch einen Barbaresco mit weißen Etikett. Die Lage gehört Giacosa nicht. Er muss die Trauben zukaufen. Seine Barbaresco Riserva kommt, wenn der Jahrgang es erlaubt, von der Lage Asili und besitzt ein ähnliches Reifepotenzial. Bruno Giacosa selbst ist inzwischen über 80. Das Weingut wird von seiner Tochter Bruna geführt, und zwar ebenso tüchtig wie leidenschaftlich. Der Vater kommt fast jeden Tag in den Keller, um seine Weine zu probieren. Die Entscheidung, ob ein Barolo oder Barbaresco Riserva und mit dem roten Etikett ausgestattet wird, trifft immer noch er selbst.

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Autor

Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

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