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Die Degustation

Der Kampf um Zehntelpunkte

Wein genießen ist eine Sache, Wein degustieren eine andere. Die Degustation ist Arbeit mit wenig Genusswert –  der Wein wird nämlich nicht geschluckt, sondern ausgespuckt. Das Ziel: ein möglichst umfassendes, für sich und andere Menschen plausibles Urteil über einen Wein abzugeben. Manchmal gelingt es, häufig nicht.

Die Wahrnehmung von Geschmacksreizen und ihre Beschreibung stellen noch kein Urteil über den Wein dar. Der französische Feinschmecker-Philosoph Jean Anthèlme Brillat-Savarin (1755–1826) hat schon vor 200 Jahren eine wichtige Unterscheidung getroffen: Für ihn beginnt jeder Weingenuss mit einer „direkten Empfindung“, dem Geschmack. Der Wein berührt die Lippen, läuft langsam über die Zunge, rollt dann wieder zurück zu den Lippen. So wird der Geschmack voll ausgekostet. Zur „vollständigen Empfindung“ gehört freilich mehr: der mundwässernde Anblick des Weins, die „Tränen“, die nach dem Schwenken am Glas herunterlaufen, und natürlich der Duft. Mit ihm beginnt der direkte Genuss. Er reizt die Sinne ähnlich wie die Berührung des Weins mit der Zunge.

Die Genussverkostung

Die „vollständige Empfindung“ ist die Voraussetzung für ein Urteil über den Wein. Aber erst die „reflektierte Empfindung“, die die Sinneseindrücke ordnet, macht es möglich, zu einem solchen Urteil zu kommen. Der Körperreichtum, die Länge, die Vielfalt, die Üppigkeit, die Harmonie – der Gesamteindruck von einem Wein bildet sich durch das mosaikhafte Zusammensetzen einzelner Wahrnehmungen im Kopf. Brillat-Savarin war ein barocker Lebemann. Er wollte zuerst genießen, um dem Genuss danach einen Sinn zu geben. Sein Werk über „Die Physiologie des Geschmacks“ ist eine fast wissenschaftlich anmutende Lehre der höheren Genüsse – einschließlich dem des Weins.

Die Degustation

Die heutigen Degustationsbreviere sind nüchterner. Da geht es nicht um den Genuss, sondern um die Analyse des Weins. Sommeliers, Weinhändler und Journalisten verkosten die Weine, ohne sie zu schlucken. Nachdem der Wein auf der Zunge „gewogen“ wurde, wird er in Näpfe gespuckt. Die Arbeit steht also im Vordergrund, nicht der Genuss. Die Weine werden blind verkostet – ohne Ansicht des Etiketts. Persönliche Vorlieben oder Vorurteile sollen sich nicht auf das Urteil auswirken. Bei offiziellen Degustationen, etwa Weinprämierungen, wird ein formalisiertes Degustationsblatt verwendet. Darin werden für Aussehen, Bouquet, Geschmack und den Gesamteindruck Punkte vergeben. Das Degustationsblatt gibt es in vielen Varianten. Der Grundaufbau ist jedoch immer gleich. Nach Errechnung des Mittelwertes der Gesamtnoten sind es am Ende Zehntelpunkte, die über Sieg oder Niederlage entscheiden.

150 Weine pro Tag verkosten

Die Punktebewertung dient nach wie vor als Basis für die Vergabe von Medaillen bei Weinwettbewerben. Mit der Inflation der Gold-, Silber- und Bronzemedaillen haben die Weinwettbewerbe jedoch überall auf der Welt an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Heute wird die Punktebewertung durch berufliche Weinverkoster, Degustationskommissionen, Fachjournalisten vorgenommen. Sie dient vor allem der Erstellung von Rangordnungen. Solche rankings sind, da sie meist veröffentlicht werden, ein wichtiges Verkaufsinstrument geworden. Keine Weinzeitschrift kann es sich leisten, auf sie zu verzichten. Benotungen nach Punkten haben die oftmals blumigen, phantasiereichen Weinbeschreibungen abgelöst. Während in Europa traditionell auf einer 20-Punkte-Skala gewertet wird, ist in Amerika die 100-Punkte-Skala gebräuchlich. Die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse solcher Degustationen hängt freilich nicht von der Skala, sondern von der Seriosität der Verkoster ab – und von den Bedingungen. 80 Weine an einem Tag konzentriert zu verkosten und zu bewerten, ist zweifellos schwierig. Bei 150 Weinen am Tag – was keine Seltenheit ist – dürfte die Fehlerrate entsprechend hoch liegen.

Private Weinproben

Auch im privaten Rahmen lassen sich Weindegustationen veranstalten. Sie sollten unter ein bestimmtes Thema gestellt werden: Cabernet Frankreich gegen Cabernet Kalifornien, oder die zehn besten Chardonnay Kaliforniens gegeneinander. Eine solche Weinprobe wäre horizontal aufgebaut. Wenn sie vertikal aufgebaut ist, wird ein und derselbe Wein über mehrere Jahrgänge hinweg verprobt. Wichtig bei diesen Proben ist, dass die Weine blind verkostet werden. Auf diese Weise wird eine größere Objektivität gewährleistet. Man wickelt die Flaschen, die in der Degustation sind, in Papier ein, so dass niemand das Etikett lesen kann. Oder man stülpt einfach einen Strumpf über die Flasche. Ob Punkte oder verbale Urteile über die Weine abgegeben werden, liegt im Ermessen des Veranstalters der Degustation. Meist werden die Weine getrunken, nicht ausgespuckt.

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