Sonne aus dem Zuckersack
Gäbe es ein ideales Weinklima, so könnten jedes Jahr makellos reife Trauben geerntet werden. Körper und Alkoholgehalt des Weins würden sich in perfekter Harmonie befinden. Leider muß der Kellermeister manchmal die Versäumnisse der Natur ausgleichen und dem Wein künstlich zu einem höheren Alkoholgehalt verhelfen.
In kühlen, sonnenarmen Jahren bilden die Trauben nur wenig Zucker. Resultat ist, daß die Weine hinterher einen niedrigen Alkoholgehalt aufweisen. Sie sind leicht und wirken mager. Gerade körperreichen und aromatischen Weinen fehlt es an Harmonie. So kommt es, daß viele Kellermeister dem Most oder dem gärenden Wein Zucker zusetzen. Der Zucker wird von den Gärhefen wie natürliche Glucose beziehungsweise Fructose angesehen und zu Alkohol verarbeitet. Das heißt: Der Wein ist nach Beendigung der Gärung trocken. Damit 100 Liter Wein ein Grad Alkohol mehr bilden, müssen diesem 2,4 Kilogramm Zucker zur Vergärung beigemischt werden.
Zuckerung rettet den Weinbau
Die Anreicherung des Weins mit Zucker zur Erzielung eines höheren Alkoholgehalts heißt Chaptalisation. Der Begriff geht auf den französischen Wissenschaftler und Politiker Jean- Antoine Chaptal zurück (1756-1832). Als Innenminister unter Napoleon machte ihm der Verfall der Weinqualität in der Zeit nach der Französischen Revolution große Sorgen. So schlug er vor, die Gradation der Weine durch Anreicherung mit konzentriertem süßen Most oder mit Rohrzucker zu erhöhen. Wie das konkret vor sich geht, beschrieb zum ersten Mal der Trierer Chemiker Ludwig Gall gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, als zahlreiche Moselwinzer wegen mehrerer schlechter Jahrgänge hintereinander keine Trauben ernteten, den Weinbau aufgeben mußten und auswanderten. Die von ihm beschriebene Anreicherung ermöglichte es, auch in kleinen Jahren harmonische Weine zu erzeugen. „Sonne aus dem Sack“, frohlockten die Moselaner damals.
Missbrauch der Chaptalisation
Chaptalisiert wird in nahezu allen Weinbauländern der Welt (lediglich in den warmen Zonen Kaliforniens, in Südafrika, Chile und in Australien ist die Chaptalisation verboten – allerdings auch nicht nötig). Die europäische Weingesetzgebung hat allerdings die Grenzen der Chaptalisation genau festgelegt. In den kühlsten Regionen Europas, der Weinbauzone A (England, Luxemburg, Mosel-Saar- Ruwer, Württemberg), dürfen die Weine im Regelfall um maximal 3,5 Vol. % angereichert werden (Rotweine 4 Vol. %), in Zone B (Champagne, Elsaß, Baden) um 2,5 Vol. %, in Zone C (Bordeaux, Burgund) um 2 Vol. %. Gleichwohl kommt es vor, daß Weine aus der Zone C auch in guten Jahren und ohne Not chaptalisiert werden, um ihnen mehr Gewicht zu geben. Für einen besonders großzügigen Umgang mit Zucker sind die Winzer aus dem Burgund und aus der Schweiz bekannt. Dort wird häufig versucht, kleinen Weinen durch Chaptalisierung mehr Alkohol zu geben, als sie von Natur aus mitbringen. In Italien darf nicht mit Zucker, es muß mit Traubenmostkonzentrat angereichert werden, wogegen die Weinwirtschaft Sturm läuft (durch ein Konzentrat aus fremden Trauben kann der Weingeschmack eines Weins verfälscht werden). Auf eine andere Gefahr, die von der Chaptalisation ausgeht, weisen die EU-Politiker immer wieder hin: Mancher Winzer treibt bewußt die Traubenerträge in die Höhe, um den entsprechend niedrigeren Alkoholgehalt seiner Weine später mit Zucker auszugleichen.
Umkehr-Osmose
In Frankreich wurde 1989 ein neues Verfahren zur Konzentration des Mosts erfunden, das die Anreicherung mit Zucker ersetzen kann. Das Verfahren heißt Umkehrosmose. Dabei wird dem vergorenen Wein Wasser entzogen, so daß sich Alkohol und Inhaltsstoffe automatisch konzentrieren. Bei dem Verfahren wird ein Tank mit einer halbporösen Membran in zwei Kammern unterteilt. Die eine enthält Wasser, die andere den Wein. Wird der Druck in der Weinkammer durch Pumpen erhöht, wandern die Wassermoleküle des Weins durch die halbporöse Membran in die Wasserkammer. Diese inverse Osmose wird vor allem in St-Emilion und Pomerol angewendet und hat dazu geführt, daß dort auch in verregneten Jahren extrem dichte, konzentrierte Weine entstehen. Allerdings ist dieses Verfahren so aufwendig und teuer, daß es sich nur wenige große Bordeaux-Châteaux leisten können.