Anfangs war es nur ein Bauchgefühl. Aber es beschlich Jörn Goziewski so stark, dass er ihm irgendwann nachgab: „Wenn ein Weißweinmost auf den Schalen gärt, müssen mehr Geschmacksstoffe in den Wein gelangen als ohne Schalen. Wer also das Maximum an Terroir im Wein will, sollte eine Maischegärung in Erwägung ziehen.“
Leicht gesagt. Gelernt hatte der 32jährige Kellermeister des Weinguts Ankermühle in Oestrich-Winkel das Gegenteil. An der Hochschule für Weinbau in Geisenheim, wo er sich als Ingenieur für Önologie diplomiert hat, sind Mostgärung und reduktiver Ausbau oberste Prinzipien der Weißwein-Bereitung. Ein Riesling etwa soll möglichst wenige phenolische Elemente enthalten, soll möglichst hell in der Farbe sein, soll ordentlich gefiltert und so geschwefelt werden, dass er lange frisch bleibt. Und natürlich soll er auch möglichst reintönig sein.
Ein Wein ohne Primäraromen
99 Prozent aller deutschen Weißweine werden so erzeugt. Weintrinker wollen Primäraromen: Apfel, Pfirsich, Zitrusfrüchte. Noten wie Kochapfel, Kamille, Karamell, Petrol bereiten ihnen Unbehagen, cremige Noten erst recht, auch wenn in ihnen manchmal die Besonderheit des Terroirs besser zum Ausdruck kommt als die Rebsorte. Sie machen den Wein nach ihrer Meinung „unlecker“. Riesling soll nach Riesling schmecken, sagt der Mainstream.
„Unlecker“ sollte Goziewskis Wein freilich nicht sein. Aber die Regeln gegen den Strich bürsten – das wollte der aus Thüringen stammende Kellermeister schon. So nahm er seine beste Partie Rieslingtrauben für ein heikles Experiment her, das ihm vermutlich die Verachtung seiner früheren Professoren eingetragen hätte, wüssten sie von dem Experiment.
Spontan vergoren
Er quetschte die Trauben nur an, gerade so, dass der Saft auslaufen konnte. Saft und Schalen ließ er einfach im offenen Bottich stehen. Kein Entschleimen, schon gar kein Zentrifugieren, kein Schwefeln der Maische. Auch keine Überlagerung mit Stickstoff, um Oxydation zu verhindern. Einfach an der frischen Luft stehenlassen. Wahnsinn, würden die Fachleute sagen und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Nach einigen Tagen setze die Gärung ein. Spontan. Sie dauerte einen Monat. Durch den sich langsam bildenden Alkohol wurde alles, was in den Schalen steckt, extrahiert. Gutes und Schlechtes: Geschmacksstoffe, Gerbstoffe, Farbstoffe. Am Ende sahen die ausgelaugten Spätlesetrauben fast hell-orange aus.
Mit den bloßen Händen gepresst
Allerdings war die Menge zu klein, um die Trommel einer Presse zu füllen. Goziewski entschied, die ausgelaugten Schalen mit der Hand auszudrücken: die mühseligste, aber auch die schonendste Art, einen Wein zu keltern. Fast einen ganzen Tag brauchte er dazu. Die Menge des Weins, die am Ende übrig blieb, reichte gerade, um ein Barrique von 225 Liter zu füllen. Darin reifte der Wein samt Fruchtfleischresten und abgestorbenen Hefen fast zwei Jahre lang.
Ein paar Milligramm Schwefel habe er hinzufügen müssen, gibt Goziewski zu. Aber dass die „schmutzige Brühe“ nicht oxydierte, führt er weniger auf den Schwefel als auf das regelmäßige Aufrühren der Hefe zurück. Hefe hat eine autolytische Wirkung. Sie verhindert, dass der Wein mit Sauerstoff reagiert. Sie schützt ihn ähnlich wie Schwefel.
Ungeschönt und unfiltriert auf die Flasche
Nach einem Jahr hatten sich Trub und Fruchtfleischreste auf dem Boden des Fasses abgesetzt. Der relativ klare Wein kam auf die Flasche – ungeschönt und unfiltriert. „Ich weiß nicht, was mit dem Wein während des Ausbaus im Fass passiert ist“, sagt Goziewski. „Ich weiß nicht, ob er sich auf der Flasche wieder eintrüben wird. Aber ich weiß, dass es keine natürlichere Art gibt, um Wein zu erzeugen.“
Das Ergebnis: ein Riesling der anderen Art. Ohne Primäraromen, ohne vibrierende Frische, aber mit einem reichem Aromenspektrum, das von Kräuterwürze über Zitronenkuchen bis zu reifer Banane reicht. Zu alledem gesellt sich ein feiner Vanilleton: Den 24-monatigen Barrique-Ausbau kann der Wein nicht ganz verleugnen, den biologischen Säureabbau auch nicht, den er in dieser Zeit von selbst im Fass gemacht hat. Dadurch weist er zwar nicht den Spannungsbogen auf, der typisch für säurefrische Rieslinge ist. Aber er ist cremiger und hat eine mildere Säure. Mit 28,80 Euro ist er preislich wie ein Großes Gewächs kalkuliert.
Zitronengelb statt Orange
Jesaja hat Goziewski den Wein genannt nach dem Propheten im Alten Testament, der dem jüdischen Volk eine glückliche Zukunft vorhersagte. Ob der Name ein gutes Omen für den Wein ist, vermag der junge Kellermeister noch nicht zu sagen. 2011 war der erste Jahrgang, den er erzeugt hat. Aber das Überraschende ist: Der Jesaja trägt zwar ein orangefarbenes Etikett, ist selbst aber eher von hellem Zitronengelb, besitzt sogar einen frischen, grünlichem Schimmer. Also keiner jener mandarinenfarbenen, gar mahagonibraunen Orange-Weine, die sonst so im Umlauf sind. Auch weist der Jesaja keine Oxydationsnoten auf, nicht einmal kleine Unfrischen oder Petroltöne. Man muss ihn also nicht aus Neugier probieren, man kann ihn auch zum Essen trinken.
Die Ankermühle ist in erster Linie ein Restaurant, in dem eine gehobene bürgerliche Küche mit starkem regionalen Touch gepflegt wird. Die eigenen Weinberge wurden 2008, als das Anwesen den Besitzer wechselte, verkauft. Leider, wie Goziewski und die heutigen Besitzer sagen. So müssen jetzt Weinberge gepachtet und Trauben zugekauft werden, um jene 30.000 Flaschen abfüllen zu können, die die Produktion der Ankermühle groß ist.
Jesaja macht ein Prozent der Produktion aus
Der größte Teil besteht aus Geisenheim-konformem Riesling. Vom Jesaja gibt es nur knapp 300 Flaschen. Er macht also gerade mal ein Prozent der Produktion aus. Dennoch wird über diesen Wein mehr diskutiert und geschrieben als über die 99 Prozent anderen Weine, die aus dem Gewölbekeller der Ankermühle kommen. Und er wird nicht nur im Rheingau getrunken, sondern steht im Sterne-Restaurant des Columbia-Hotels in Bad Griesbach auf der Karte und wird im Berliner Kult-Lokal Cordobar ausgeschenkt.
Dass der Jesaja nach offizieller Diktion nur ein Landwein ist, stört Goziewski nicht. Auf das Prädikat Spätlese muss er zwar verzichten, auf die Angabe der Lage auch: Hallgartener Jungfer (immerhin eine Große Lage). Aber das stört ihn nicht. „Dieser Wein ist ein Abenteuer“, sagt er. „Und das Abenteuer geht weiter.“