Vielleicht wird 2015 wirklich jener große Jahrgang, den sich Bordeaux so sehnlich wünscht. Vergleichbar mit 2010. Oder 2009. Oder 2005. Vielleicht aber auch nicht. Denn der Jahrgang 2015 hat den Châteaux Kopfschmerzen bereitet – und tut es noch immer. Das erste Problem war, dass die Trauben schon sehr früh hohe Zuckerwerte aufwiesen. Daraus folgte das zweite Problem: der Versuchung zu widerstehen früh zu lesen. Denn nicht die Zuckerwerte, sondern die phenolische Reife müssen den Lesezeitpunkt determinieren. Nicht alle Châteaux haben sich das klar gemacht.
Ein Riss geht durch die Winzerschaft
Aber was genau heißt früh? Einige Château am linken Ufer hielten es für richtig, ihre Lesemannschaft bereits am 3. September rauszuschicken – so früh wie noch nie. Andere begannen erst am 12. September mit der Lese, wieder andere noch später. Bis heute geht ein auffälliger Riss durch die Winzerschaft von St. Emilion und Pomerol bei der Frage, wann der richtige Lesezeitpunkt in 2015 war.
Die unterschiedlichen Ansichten haben mit einem Phänomen zu tun, das es in Bordeaux schon lange nicht mehr gegeben hat. Die Schale der Beeren war nämlich auch dann noch sehr dick, als die Trauben schon reif waren: das dritte Problem. Normalerweise wird die Schale immer dünner, je reifer die Trauben werden. Diesmal offensichtlich nicht. Der trockene, langanhaltend heiße Sommer hatte wohl dazu geführt, dass die Beeren sich durch dicke Schalen gegen die Sonne schützen wollten.
Gefahr der Über-Extraktion
Das vierte Problem war eine logische Konsequenz des dritten: die Gefahr der Überextraktion bei der Gärung. Auch wenn die Schalen dick sind, kann die Extraktion der Farbe und des Tannins durchaus leicht vonstatten gehen, vor allem, wenn der Alkohol hoch ist. So war es in 2015. Eine lange Maischegärung mit hohen Temperaturen und häufiger Remontage wäre falsch gewesen.
Das letzte Problem: Niemand weiß bis heute genau, wie gut der Jahrgang letztlich ist. Alle Äußerungen, die jetzt gemacht werden, sind reine Spekulation. Die Weine gären noch, liegen teilweise sogar noch auf der Maische. Die wichtige malolaktische Gärung, nach der sich erst zeigt, welche Qualitäten der Jahrgang wirklich hat, ist noch in weiter Ferne.
Ausschlaggebend waren die guten Terroirs
Eines ist allerdings sicher: Ein guter Jahrgang wird der 2015er allemal. Am linken Ufer, also im Médoc und im Graves, berichten die Châteaux von teilweise exzellenten Qualitäten des Cabernet Sauvignon, jedenfalls in den besten Terroirs. An einigen Stellen hatte es im August noch einmal kräftig geregnet. Bis zu 100 Millimeter Niederschlag wurden in wenigen Tagen registriert. Wo die Böden wasserdurchlässig sind wie auf den flussnahen Kiesbänken des Médoc, hatten die Reben deutlich bessere Voraussetzungen als auf lehmig-sandigen Böden. Allerdings wurde die Cabernet Sauvignon im Médoc und im Graves auch wesentlich später gelesen als in St. Emilion.
Viel Alkohol, wenig Säure
Neuer Gärkeller Chateau Cheval BlancAm rechten Ufer, also in Pomerol und St. Emilion, war es diesmal der Cabernet franc, der zuerst eingebracht wurde, während die Merlot häufig länger hing. Welche Sorte dem Jahrgang letztlich seinen Stempel aufdrücken wird, ist noch ungewiss. Sicher ist, dass die Alkoholgehalte der Weine hoch sind. Vor allem in Pomerol wird die 14 Vol.%-Schwelle regelmäßig überschritten.
Wie unterschiedlich der Jahrgang interpretiert wird, zeigen zwei Interviews, die der englische Jounrlist Andrew Black mit Pauline Vauthier von Château Ausone und Pierre Lurton von Château Cheval Blanc geführt hat. Beide Premiers haben offensichtlich sehr gute Weine im Keller – doch von ganz unterschiedlicher Stilistik. Ausone hat eher spät, Cheval Blanc eher früh gelesen.
„Wir werden einen großen Jahrgang herausbringen…”
Pierre Lurton, 60, ist Direktor von Château Cheval Blanc und Château d’Yquem, zugleich Mitbesitzer von mehr als einem Dutzend Weingütern in Bordeaux und in Spanien.
Andrew Black: Wann begannen Sie mit der Lese für den Grand Vin?
Pierre Lurton: Am 12. September. Das einzige Kriterium für uns war die phenolische Reife. Wir stellen sie fest, indem wir die Beeren probieren. In unseren frühen Lagen war dieser Zeitpunkt genau richtig. Der Zucker- und damit der spätere Alkoholgehalt sind zwar trotz der frühen Lese sehr hoch. Doch wenn wir noch früher gelesen hätten, wären die Schalen nicht reif gewesen.
Andrew Black: Waren die Schalen denn reif, als Sie zu lesen begannen?
Pierre Lurton: Sie waren reif, so wie wir uns Reife vorstellen. Wir wollen Überreife vermeiden und favorisieren Frische und Eleganz. Das heißt aber nicht, dass wir alle Trauben schon am 12. September gelesen haben. Die Merlot war in vielen Parzellen zu diesem Zeitpunkt noch nicht reif.
Andrew Black: Das klingt nach einem schwierigen Jahr…
Pierre Lurton: Eher nach einem verrückten Jahr. Cheval Blanc hat 39 Hektar Reben, und die einzelnen Lagen sind sehr unterschiedlich. Die Lese kann durchaus früh beginnen und spät enden. Dieses Mal haben wir Cabernet franc gelesen, bevor der Merlot eingekellert war. Normalerweise ist es gerade umgekehrt.
Andrew Black: Weist der Cabernet franc auch hohe Alkoholwerte auf?
Pierre Lurton: Wir werden insgesamt bei 13,8 bis 13,9 Vol.% liegen.
Andrew Black: Und wie ist die Qualität?
Pierre Lurton: 2015 besitzt ein echt gutes Potenzial. Dunkel in der Farbe, vollmundig und intensiv. Wir werden einen großen Wein herausbringen, da bin ich mir sicher.
Etikett Cheval BlancAndrew Black: War 2015 mehr ein Merlot- oder ein Cabernet franc-Jahr?
Pierre Lurton: Der Merlot, den wir geerntet haben, ist sehr, sehr gut. Die Weine besitzen eine gute Struktur und sind dennoch sehr frisch.
Andrew Black: Würden Sie den 2015 auf eine Stufe mit den 2009er und 2010er stellen?
Pierre Lurton: Der Vegetationszyklus erinnert mich mehr an 2005, aber der Wein könnte dem 2010er ähneln. Er ist reif und frisch zugleich, reflektiert also den heißen Juli und den kühlen August.
Andrew Black: War es falsch, spät zu lesen, wie einige Châteaux es getan haben?
Pierre Lurton: 2015 ist kein Jahrgang, der eine späte Lese erforderte. Aber jeder Winzer hat sein eigenes Terroir und seine eigene Philosophie. Wir wollen, dass der Merlot reif ist. Aber wir wollen ihn al dente.
Andrew Black: Die Säure ist das Markenzeichen von Cheval Blanc. Hat der Merlot in 2015 genügend Säure?
Pierre Lurton: Die Apfelsäure ist niedrig. Aber der ph-Wert liegt zwischen 3,4 und 3,5. Das ist sehr gut. Gute ph-Werte und hoher Alkohol – das sind die Kennzeichen des 2015er Jahrgangs.
„Wir werden nicht in die Dimension des 2010ers vorstoßen“
Pauline VauthierPauline Vauthier, 31, ist eines der vier Kinder von Alain Vauthier, dem Besitzer von Château Ausone und Château Simard, beide in St. Emilion. Unter ihren Geschwistern ist sie die einzige, die auf den Châteaux arbeitet. Sie leitet sie zusammen mit ihrem Vater.
Andrew Black: Wann haben Sie auf Château Ausone mit der Lese begonnen?
Pauline Vauthier: Auf Ausone am 24. September, auf Simard am 17. September.
Andrew Black: Wollten Sie nicht eigentlich früher lesen?
Pauline Vauthier: Wir haben uns entschlossen, den Trauben ein bisschen mehr Zeit zu geben. Das Wetter war gut, Fäulnis gab es nicht.
Andrew Black: Was erwarteten Sie sich von der längeren Hängezeit?
Pauline Vauthier: Feinere Tannine. Vor allem die Kerne in den Beeren sind dann reifer. Wir hätten zwar früher lesen können. Aber wir wollten noch bessere Resultate bekommen.
Andrew Black: Man spricht von sehr hohen Alkoholgehalten. Wie hoch liegen sie beim Cabernet franc?
Pauline Vauthier: Die Merlot wird sicherlich 14 Vol.% erreichen, Cabernet franc liegt kaum niedriger.
Andrew Black: Könnte es am Ende ein großer Jahrgang werden?
Pauline Vauthier: Obwohl die Parameter wirklich gut sind, glaube ich nicht, dass wir in die Dimension eines 2010ers vorstoßen werden.
Etikett AusoneAndrew Black: Wie schwierig ist es, den Jahrgang 2015 zu vinifizieren?
Pauline Vauthier: Wir müssen sehr vorsichtig sein. Der Alkohol ist hoch, es besteht die Gefahr einer Über-Extraktion. Wir wälzen die Maische deshalb nur einmal am Tag um.
Andrew Black: Und die Säure?
Pauline Vauthier: Der ph-Wert liegt bei 3,5. Also keine Probleme.
Andrew Black: Wie war die Farb-Extraktion?
Pauline Vauthier: Ging unglaublich schnell. Innerhalb weniger Stunden war der Wein fast schwarz.
Andrew Black: Viele Kollegen sprechen von einem herausragenden Jahrgang…
Pauline Vauthier: Nach zwei schwierigen Jahrgängen ist, wenn endlich mal wieder ein guter Jahrgang kommt, die Versuchung groß zu übertreieben. Aber wie gesagt: Ich glaube nicht an einen zweiten 2010er. Zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht.
Andrew Black: Mit welchem Jahrgang würden Sie den 2015er denn vergleichen?
Pauline Vauthier: Mit dem 2009er.
Andrew Black: Auch nicht schlecht. Glauben Sie wirklich, dass der 2015er so seidig und opulent wird wie der 2009er?
Pauline Vauthier: Auf jeden Fall ist er besser als 2011, 2012, 2013, 2014. Fragen Sie mich, wenn die Malo durch ist. Vielleicht gebe ich Ihnen dann eine andere Antwort.