Die Gunst der späten Lese
Reife Trauben müssen nicht unbedingt sofort gelesen werden. Solange die Herbstsonne scheint, können sie weiterreifen, bis sie „vollreif“, gar „überreif“ sind. Durch die Gnade des Wettergottes entstehen so feine Spätlesen und edelsüße Auslesen.
Eine späte Lese führt dazu, daß die Weine voller, stärker werden. Der Zuckeranteil in den Beeren steigt weiter an, die Säure nimmt weiter ab. Das gilt für weiße wie für rote Trauben. In Zonen mit kühlem, kontinentalen Klima versuchen die Winzer, die Lese hinauszuziehen, um höhere Mostgewichte und damit vollmundigere, edlere Weine zu bekommen. Oft ist es dort allerdings pure Notwendigkeit, weil die Trauben wegen der niedrigeren Temperaturen später reifen. In Teilen Deutschlands und Österreichs sowie Frankreichs brauchen sie zum Beispiel vier Wochen länger, um auf dieselben Mostgewichte zu kommen wie in den warmen Anbauländern.
Vollreife Trauben durch späte Lese
Die teilweise noch hohe Tageswärme des Herbstes führt dazu, daß die Rebe auch nach dem Reifestadium weiter assimiliert und Zucker in die Beeren einlagert. Das Mostgewicht steigt. Die Trauben erreichen das Stadium der Vollreife. So entstehen Spätlesen: gehaltvolle Weine mit komplexen Aromen. Allerdings sind die Nächte zu dieser Jahreszeit schon recht kühl. Ein Teil des tagsüber gebildeten Zuckers wird nachts wieder veratmet. Das heißt: Die Zuwächse an Zucker werden im Laufe der Zeit geringer. Ab einem bestimmten Punkt halten sie sich mit den Verlusten die Waage. Manchmal tritt dieser Zustand schon Anfang Oktober, manchmal erst Ende Oktober ein. Spätestens dann schicken die Winzer ihre Lesehelfer in den Weinberg, um die Trauben zu schneiden.
Spätgelesener Wein ist extraktreicher
Durch eine bewußt verzögerte Traubenernte entwickeln sich in den Beeren mehr Extraktstoffe sowie mehr Polyphenole und Anthocyane (bei Rotweinen). Dadurch entstehen körperreichere, konzentriertere Weine – vor allem Weine mit einem höheren Alkoholgehalt, weil die Rebe mehr Zeit hatte, Zucker zu bilden. Isoliert betrachtet ist Alkohol zwar kein Qualitätskriterium. Aber ein guter Wein muß einen seinem Extraktreichtum angepaßten Alkoholgehalt besitzen, um harmonisch zu sein. Und die Extrakte – außer Zucker sind das vor allem Glycerin, Säure, Minerale und Phenole – nehmen mit fortschreitender Reife zu.
Weine aus überreifen Trauben
In bestimmten Anbaugebieten lassen die Winzer einen Teil der vollreifen Trauben weiter am Rebstock hängen. Dadurch erreichen diese das Stadium der Überreife. Zwar ist die „Zuckerbilanz“ der Beeren dann negativ, weil mehr Zucker veratmet als neu gebildet wird. Da aber gleichzeitig der Wasseranteil am Traubensaft durch Verdunstung sinkt, steigt die Zuckerkonzentration automatisch an: Der prozentuale Anteil des Zuckers am Most und damit das Mostgewicht nimmt zu. Auf diese Weise entstehen edelsüße Auslesen. Ihr Most ist so zuckerreich, daß er nicht mehr durchgären kann. Ein mehr oder minder großer Zuckerrest bleibt im Wein und gibt ihm eine raffinierte, edle Süße. Oft stoppt auch der Kellermeister bewußt die Gärung, bevor der Zucker vollständig vergoren wurde.
Glucose und Fructose
Die Süße der Weine aus überreifem Lesegut geht unter anderem auf den hohen Fructoseanteil zurück. Fructose ist eine besonders hochwertige Zuckerart mit einer deutlich größeren Süßkraft als Glucose. Glucose ist die zweite Zuckerart, die die Weinrebe bildet. Während sie zu Beginn der Reifephase im August noch über 80 Prozent des Zuckers im Traubensaft ausmacht, nimmt der Fructoseanteil mit zunehmender Reife überproportional zu. Am Ende der Reifephase ist etwa gleich viel Fructose wie Glucose im Traubensaft enthalten. In überreifen Beeren überwiegt sogar die Fructose. Der Botrytis-Pilz, ohne den es praktisch keine Überreife gibt, baut mehr Glucose als Fructose ab.
Historischer Zufall: Wie es zur Spätlese kam
Die Entdeckung der späten Lese geht auf das Jahr 1775 zurück. Der Fürstabt von Fulda, damals Eigentümer von Schloß Johannisberg im Rheingau, mußte jedes Jahr schriftlich die Erlaubnis für den Beginn der Lese geben. Das entsprechende Dokument überbrachte ein Reiter. Aufgrund verschiedener Umstände verspätete sich der Herbstbote in jenem Jahr. Bei seiner Ankunft war ein Teil der Trauben schon faul. Die Mönche kelterten die faulen Trauben separat. Über den Wein, der aus ihnen gewonnen wurde, berichtete einer von ihnen später dem Abt: „Solche Weine habe ich noch nicht in den Mund gebracht.“ Eine Statue des Reiters steht heute im Hof des Schlosses. Allerdings wurde im ungarischen Tokaj schon 1650 aus edelfaulen Trauben Wein erzeugt. Damals verschob der Verwalter auf der Burg von Tokaj die Lese wegen eines bevorstehenden Angriffs der Türken. Nachdem die Gefahr vorüber war, hatte sich die Edelfäule ausgebreitet. Der Legende zufolge entstand so der erste süße Wein aus edelfaulen Trauben. In Frankreich wurde die Edelfäule erstmals 1847 auf Château d’Yquem erwähnt. Marquis Bertrand de Lur-Saluces, der Besitzer, kam verspätet von einer Reise aus Rußland zurück, so daß die Trauben in seinen Weinbergen schon Fäule angesetzt hatten. Dennoch wurde gelesen, und der 1847er erwies sich als der größte Jahrgang des 19. Jahrhunderts. Sicher ist allerdings, daß Château d’Yquem und das Sauternais bedeutende Süßweine hervorgebracht hatten. Die Weine der Jahre 1811 und 1825 sind legendär.