Das Wunder von Bordeaux: die zweiten Trauben nach dem großen Frost

In Bordeaux stehen die en primeur-Verkostungen an. Soviel ist sicher: Die Mengen sind aufgrund der fürchterlichen April-Fröste halbiert – vor allem am rechten Ufer. Andrew Black hat Pierre-Olivier Clouet von Cheval Blanc gefragt, wieso im Herbst überhaupt noch Trauben an den Rebstöcken hängen konnten.

In der Nacht vom 20. auf 21. April des letz­ten Jah­res fie­len die Tem­pe­ra­tu­ren in Bor­deaux bis auf minus 5°C und zer­stör­ten gro­ße Tei­le der jun­gen Trie­be. Doch das war nur der Anfang. Eine Woche spä­ter, in der Nacht von 27. auf 28. April, fie­len die Tem­pe­ra­tu­ren aber­mals, und zwar noch tie­fer. Als die Win­zer am nächs­ten Mor­gen ihre Wein­ber­ge inspi­zier­ten, sahen sie rei­hen­wei­se abge­knick­te, teil­wei­se schwarz ange­lau­fe­ne Blät­ter und Frucht­stän­de. An die­sen Trie­ben, erkann­ten sie schnell, wür­de in die­sem Jahr kei­ne Trau­be mehr wachsen.

Climens und Fieuzal ganz ohne Wein

Karte der Frostschäden
Kar­te der Frostschäden

Je nach Appel­la­ti­on schwan­ken die Schä­den zwi­schen 10 und 100 Pro­zent. Châ­teaux Fieuz­al und Chan­te­gri­ve in Gra­ves sowie Châ­teau Cli­mens in Sau­t­er­nes kün­dig­ten bald nach dem Frost an, über­haupt kei­nen Wein aus dem Jahr­gang 2017 auf den Markt zu brin­gen. Die meis­ten Châ­teaux muss­ten ein­ge­ste­hen, dass sie nur einen Bruch­teil ihrer nor­ma­len Ern­te abfül­len können.

Wer sich die „Frost­kar­te“ anschaut, erkennt schnell, wo die größ­ten Schä­den zu ver­zeich­nen sind: in Gra­ves und Sau­t­er­nes sowie am rech­ten Ufer mit St. Emi­li­on und sei­nen Satel­li­ten sowie in Pome­rol. Das lin­ke Ufer ist dage­gen wenig betrof­fen. Der Con­seil Inter­pro­fes­sio­nel de Vin de Bor­deaux (CIVB) geht davon aus, dass in 2017 in Bor­deaux durch­schnitt­lich 40 Pro­zent weni­ger Rot­wein und 50 Pro­zent weni­ger Weiß­wein abge­füllt wer­den wird.

Auch die Premiers sind schwer getroffen

Auch die Pre­miers Crus wur­den nicht ver­schont. Bei Che­val Blanc sind über 30 Pro­zent der Reb­flä­che frost­ge­schä­digt, bei Aus­o­ne etwas weni­ger. Ange­lus hat mitt­ler­wei­le ange­kün­digt, eben­falls kei­nen 2017er zu fül­len. Pavie wird dage­gen eine klei­ne Men­ge anbie­ten kön­nen. Das Châ­teau hat in den Frost­näch­ten einen Hub­schrau­ber auf­stei­gen las­sen, um die Kalt­luft über den Wein­ber­gen zu verwirbeln.

„Schlafende Augen“ aktiviert

In den ers­ten Tagen nach dem Frost war vie­ler­orts sogar von Total­schä­den die Rede. Dass es nicht ganz so schlimm kam, hat mit einem Selbst­hil­fe­me­cha­nis­mus der Reben zu tun. Vie­le Stö­cke haben nach dem Käl­te­schock ihre „schla­fen­den Augen“ akti­viert und neue Trie­be gebil­det – ein Phä­no­men, das nach Spät­frös­ten oft zu beob­ach­ten ist. Das bedeu­tet: Der Reb­stock ver­sucht, die durch den Frost ver­ur­sach­ten Ver­lus­te teil­wei­se wie­der wett­zu­ma­chen, indem er unter der Rin­de ver­bor­ge­ne Knos­pen auf­bre­chen lässt und zur Blü­te bringt. Dadurch haben im Herbst teil­wei­se auch sol­che Reb­stö­cke Trau­ben getra­gen, deren Trie­be ursprüng­lich kom­plett erfro­ren waren – aller­dings nicht die glei­che Men­ge wie normal.

Frostgeschädigte Rebe

Lei­der hat die zwei­te Gene­ra­ti­on von Trau­ben sel­ten die Qua­li­tät der ers­ten. Da die „schla­fen­den Augen“ erst vier Wochen nach dem Aus­bruch der ers­ten Augen akti­viert wer­den, ver­schie­ben sich der gesam­te Vegetations- und Rei­fe­zy­klus um genau die­se Zeit. Die Trau­ben der zwei­ten Gene­ra­ti­on rei­fen ent­spre­chend spä­ter. Die Lese ver­zö­gert sich. Das Regen­ri­si­ko steigt.

Glück­li­cher­wei­se erwies sich der Jahr­gang 2017 im wei­te­ren Ver­lauf als wär­mer als erwar­tet. Die Merlot-Lese begann bereits am 5. Sep­tem­ber – die der zwei­ten Trauben-Generation nur weni­ge Tage spä­ter. Den­noch: Nicht immer war die Qua­li­tät aus­rei­chend, um das gewohn­te Qua­li­täts­ni­veau zu errei­chen. Auf Châ­teau Aus­o­ne gibt man unum­wun­den zu, dass man die zwei­ten Trau­ben nicht reif gekriegt hat und sie für den 2017er Grand Vin nicht ein­set­zen wird. Der Wein aus ihnen wird offen ver­kauft. Che­val Blanc kün­digt dage­gen an, einen gro­ßen Teil der zwei­ten Trau­ben für sei­nen ers­ten Wein ver­wen­den zu kön­nen. Der in Bor­deaux ansäs­si­ge Eng­län­der Andrew Black hat mit Pierre-Olivier Clou­et unter­hal­ten, dem Tech­ni­schen Direk­tor von Châ­teau Che­val Blanc.

Interview mit Pierre-Olivier Clouet

Andrew Black: Wie groß ist der Anteil der Reb­flä­che von Châ­teau Che­val Blanc, die vom Frost heim­ge­sucht wurde?

Pierre-Olivier Clou­et: Ein Drit­tel. Wenn man sich so umschaut in St. Emi­li­on, kön­nen wir glück­lich sein, dass 70 Pro­zent unse­rer Wein­ber­ge vom Frost ver­schont wur­den. Aber wir sind ver­dammt, auf unse­rer gesam­ten Reb­flä­che einen gro­ßen Wein zu erzeu­gen, nicht nur auf 70 Pro­zent. Das bedeu­te­te für uns eine kolos­sa­le Anstren­gung. Wir muss­ten 300.000 Reb­stö­cke von Hand mar­kie­ren, je nach dem, ob sie frost­ge­schä­digt waren oder nicht.

Andrew Black: Obwohl sich die Lese auf Che­val Blanc immer über einen lan­gen Zeit­raum zieht, muss sie in 2017 beson­ders lan­ge gedau­ert haben, weil es galt, zwei Trau­ben­ge­ne­ra­tio­nen einzubringen?

Pierre-Olivier Clou­et: Wir haben am 5. Sep­tem­ber begon­nen und dies­mal erst am 13. Okto­ber been­det: also über einen Zeit­raum von 40 Tagen gelesen.

Andrew Black: Wie gut war die zwei­te Trau­ben­ge­ne­ra­ti­on? War sie völ­lig reif?

Pierre-Olivier Clou­et: Wir hat­ten nur einen klei­nen Teil zwei­te Trau­ben, aber die Qua­li­tät war aus­ge­zeich­net. So gut, dass wir jetzt 75 Pro­zent der Par­zel­len, von denen sie kamen, für den Ers­ten Wein ver­wen­den können.

Andrew Black: Wow, das muss auch für Sie eine gro­ße Über­ra­schung gewe­sen sein…?

Pierre-Olivier Clou­et: Ja und nein. Wir merk­ten schnell, dass die­se Lots sich im Fass sehr vor­teil­haft ent­wi­ckel­ten. Aber auch schon im Wein­berg wur­de uns früh klar, dass die zwei­ten Trau­ben auf einem guten Weg sind. Sie zeig­ten das glei­che Geschmacks­pro­fil, das wir nor­ma­ler­wei­se in den ers­ten Trau­ben der betref­fen­den Par­zel­len kennen.

Andrew Black: Haben Sie die zwei­ten Trau­ben genau­so vini­fi­ziert wie die ersten?

Pierre-Olivier Clou­et: Ja. Wir muss­ten nur klei­ne­re Gär­be­häl­ter benut­zen als nor­mal, weil die Men­ge gerin­ger ausfiel.

Andrew Black: Sie sind also bei dem Prin­zip der Parzellen-genauen Vini­fi­zie­rung treu geblieben?

Pierre-Olivier Clou­et: Abso­lut. Und ich glau­be, dass das das Erfolgs­re­zept für die zwei­ten Trau­ben war. Weil die Gär­be­häl­ter so klein waren, konn­ten wir leicht die bes­ten Par­tien aus­wäh­len, die in den Che­val Blanc ein­ge­hen sol­len. Nicht alle Par­tien war dazu geeignet.

Pierre-Olivier Clouet

Andrew Black: Was hat Sie die Erfah­rung mit dem Frost gelehrt?

Pierre-Olivier Clou­et: Die Bedeu­tung des Nach­schnitts. Wir haben gleich nach dem Frost jede Par­zel­le neu beschnit­ten, aller­dings nur jede zwei­te Rei­he. Wir woll­ten sehen, wel­chen Unter­schied es macht, ob die Reb­schen­kel mit den erfro­re­nen Trie­ben blei­ben oder nicht. Das Resul­tat war ein­deu­tig: die beschnit­te­nen Reben reagier­ten bes­ser und brach­ten spä­ter mehr und qua­li­ta­tiv bes­se­re Trau­ben hervor.

Andrew Black: Haben Sie nach dem Nach­schnitt die Erzie­hung geändert?

Pierre-Olivier Clou­et: Nein, wir haben die Reber­zie­hung nicht geän­dert und auch die Laub­wand nicht ver­klei­nert. So haben die zwei­ten Trau­ben pro­fi­tiert von der ver­gleichs­wei­se grö­ße­ren Anzahl an Blättern.

Andrew Black:  Woher kommt die ver­brei­te­te Auf­fas­sung, dass die zwei­te Trau­ben­ge­ne­ra­ti­on weni­ger gut ist als die erste?

Pierre-Olivier Clou­et: Auch wir gin­gen davon aus, dass die zwei­ten Trau­ben sau­er und viel zu dick­scha­lig sind. Aber das ist nur dann der Fall, wenn die Trau­ben nicht zur vol­len Rei­fe gebracht wer­den. Zuge­ge­ben, in 2017 half uns das Wet­ter. Ende des Som­mers war es wun­der­schön, es fiel kein ein­zi­ger Regen­trop­fen. Die Vérai­son, die Dun­kel­fär­bung der Trau­ben, voll­zog sich bei der zwei­ten Trau­ben­ge­ne­ra­ti­on zum sel­ben Zeit­punkt wie Vérai­son der ers­ten Trau­ben im küh­len Jahr 2014: also etwas spä­ter als nor­mal, aber nicht viel später.

Andrew Black: Wie wird sich der 2017er Che­val Blanc eines Tages präsentieren?

Pierre-Olivier Clou­et: Es wird aus drei­er­lei Grün­den ein beson­de­rer Wein sein. Erst ein­mal, weil er, wie gesagt, aus ers­ten und zwei­ten Trau­ben zusam­men­ge­stellt wur­de. Zwei­tens, weil er einen unge­wöhn­lich hohen Anteil an Caber­net Sau­vi­gnon auf­wei­sen wird, wahr­schein­lich rund 10 Pro­zent. Das hat es auf Che­val Blanc noch nie gege­ben. Aber Caber­net Sau­vi­gnon hat dem Frost bes­ser stand­ge­hal­ten als Mer­lot und Caber­net franc.

Andrew Black: Und drittens?

Pierre-Olivier Clou­et: Der Frost hat vor allem Par­zel­len mit lehm­hal­ti­gen Unter­grund getrof­fen. Das bedeu­tet: Es fehlt eine Facet­te im Ver­gleich zu den ande­ren Jahr­gän­gen. Die zwei­ten Trau­ben aus die­sen Par­zel­len haben einen ande­ren Rei­fe­zy­klus mit­ge­macht. Wäh­rend die ers­ten Trau­ben im hei­ßen, tro­cke­nen Som­mer ihren Rei­fe­pro­zess began­nen, konn­ten die zwei­ten Trau­ben erst im küh­le­ren Spät­som­mer rei­fen. Im fina­len Che­val Blanc-Blend fin­den sich also Trau­ben aus einem hei­ßen und einem küh­len Jahr wie­der. Anders gesagt: voll­mun­di­ge, kom­plett son­nen­ge­reif­te Trau­ben mit dunk­ler Bee­ren­aro­ma­tik zusam­men mit duf­ti­gen rot­beer­i­gen Aro­men, die von Fri­sche und Säu­re geprägt sind.

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