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Das Wunder von Bordeaux: die zweiten Trauben nach dem großen Frost

In der Nacht vom 20. auf 21. April des letzten Jahres fielen die Temperaturen in Bordeaux bis auf minus 5°C und zerstörten große Teile der jungen Triebe. Doch das war nur der Anfang. Eine Woche später, in der Nacht von 27. auf 28. April, fielen die Temperaturen abermals, und zwar noch tiefer. Als die Winzer am nächsten Morgen ihre Weinberge inspizierten, sahen sie reihenweise abgeknickte, teilweise schwarz angelaufene Blätter und Fruchtstände. An diesen Trieben, erkannten sie schnell, würde in diesem Jahr keine Traube mehr wachsen.

Climens und Fieuzal ganz ohne Wein

Karte der Frostschäden
Karte der Frostschäden

Je nach Appellation schwanken die Schäden zwischen 10 und 100 Prozent. Châteaux Fieuzal und Chantegrive in Graves sowie Château Climens in Sauternes kündigten bald nach dem Frost an, überhaupt keinen Wein aus dem Jahrgang 2017 auf den Markt zu bringen. Die meisten Châteaux mussten eingestehen, dass sie nur einen Bruchteil ihrer normalen Ernte abfüllen können.

Wer sich die „Frostkarte“ anschaut, erkennt schnell, wo die größten Schäden zu verzeichnen sind: in Graves und Sauternes sowie am rechten Ufer mit St. Emilion und seinen Satelliten sowie in Pomerol. Das linke Ufer ist dagegen wenig betroffen. Der Conseil Interprofessionel de Vin de Bordeaux (CIVB) geht davon aus, dass in 2017 in Bordeaux durchschnittlich 40 Prozent weniger Rotwein und 50 Prozent weniger Weißwein abgefüllt werden wird.

Auch die Premiers sind schwer getroffen

Auch die Premiers Crus wurden nicht verschont. Bei Cheval Blanc sind über 30 Prozent der Rebfläche frostgeschädigt, bei Ausone etwas weniger. Angelus hat mittlerweile angekündigt, ebenfalls keinen 2017er zu füllen. Pavie wird dagegen eine kleine Menge anbieten können. Das Château hat in den Frostnächten einen Hubschrauber aufsteigen lassen, um die Kaltluft über den Weinbergen zu verwirbeln.

„Schlafende Augen“ aktiviert

In den ersten Tagen nach dem Frost war vielerorts sogar von Totalschäden die Rede. Dass es nicht ganz so schlimm kam, hat mit einem Selbsthilfemechanismus der Reben zu tun. Viele Stöcke haben nach dem Kälteschock ihre „schlafenden Augen“ aktiviert und neue Triebe gebildet – ein Phänomen, das nach Spätfrösten oft zu beobachten ist. Das bedeutet: Der Rebstock versucht, die durch den Frost verursachten Verluste teilweise wieder wettzumachen, indem er unter der Rinde verborgene Knospen aufbrechen lässt und zur Blüte bringt. Dadurch haben im Herbst teilweise auch solche Rebstöcke Trauben getragen, deren Triebe ursprünglich komplett erfroren waren – allerdings nicht die gleiche Menge wie normal.

Frostgeschädigte Rebe

Leider hat die zweite Generation von Trauben selten die Qualität der ersten. Da die „schlafenden Augen“ erst vier Wochen nach dem Ausbruch der ersten Augen aktiviert werden, verschieben sich der gesamte Vegetations- und Reifezyklus um genau diese Zeit. Die Trauben der zweiten Generation reifen entsprechend später. Die Lese verzögert sich. Das Regenrisiko steigt.

Glücklicherweise erwies sich der Jahrgang 2017 im weiteren Verlauf als wärmer als erwartet. Die Merlot-Lese begann bereits am 5. September – die der zweiten Trauben-Generation nur wenige Tage später. Dennoch: Nicht immer war die Qualität ausreichend, um das gewohnte Qualitätsniveau zu erreichen. Auf Château Ausone gibt man unumwunden zu, dass man die zweiten Trauben nicht reif gekriegt hat und sie für den 2017er Grand Vin nicht einsetzen wird. Der Wein aus ihnen wird offen verkauft. Cheval Blanc kündigt dagegen an, einen großen Teil der zweiten Trauben für seinen ersten Wein verwenden zu können. Der in Bordeaux ansässige Engländer Andrew Black hat mit Pierre-Olivier Clouet unterhalten, dem Technischen Direktor von Château Cheval Blanc.

Interview mit Pierre-Olivier Clouet

Andrew Black: Wie groß ist der Anteil der Rebfläche von Château Cheval Blanc, die vom Frost heimgesucht wurde?

Pierre-Olivier Clouet: Ein Drittel. Wenn man sich so umschaut in St. Emilion, können wir glücklich sein, dass 70 Prozent unserer Weinberge vom Frost verschont wurden. Aber wir sind verdammt, auf unserer gesamten Rebfläche einen großen Wein zu erzeugen, nicht nur auf 70 Prozent. Das bedeutete für uns eine kolossale Anstrengung. Wir mussten 300.000 Rebstöcke von Hand markieren, je nach dem, ob sie frostgeschädigt waren oder nicht.

Andrew Black: Obwohl sich die Lese auf Cheval Blanc immer über einen langen Zeitraum zieht, muss sie in 2017 besonders lange gedauert haben, weil es galt, zwei Traubengenerationen einzubringen?

Pierre-Olivier Clouet: Wir haben am 5. September begonnen und diesmal erst am 13. Oktober beendet: also über einen Zeitraum von 40 Tagen gelesen.

Andrew Black: Wie gut war die zweite Traubengeneration? War sie völlig reif?

Pierre-Olivier Clouet: Wir hatten nur einen kleinen Teil zweite Trauben, aber die Qualität war ausgezeichnet. So gut, dass wir jetzt 75 Prozent der Parzellen, von denen sie kamen, für den Ersten Wein verwenden können.

Andrew Black: Wow, das muss auch für Sie eine große Überraschung gewesen sein…?

Pierre-Olivier Clouet: Ja und nein. Wir merkten schnell, dass diese Lots sich im Fass sehr vorteilhaft entwickelten. Aber auch schon im Weinberg wurde uns früh klar, dass die zweiten Trauben auf einem guten Weg sind. Sie zeigten das gleiche Geschmacksprofil, das wir normalerweise in den ersten Trauben der betreffenden Parzellen kennen.

Andrew Black: Haben Sie die zweiten Trauben genauso vinifiziert wie die ersten?

Pierre-Olivier Clouet: Ja. Wir mussten nur kleinere Gärbehälter benutzen als normal, weil die Menge geringer ausfiel.

Andrew Black: Sie sind also bei dem Prinzip der Parzellen-genauen Vinifizierung treu geblieben?

Pierre-Olivier Clouet: Absolut. Und ich glaube, dass das das Erfolgsrezept für die zweiten Trauben war. Weil die Gärbehälter so klein waren, konnten wir leicht die besten Partien auswählen, die in den Cheval Blanc eingehen sollen. Nicht alle Partien war dazu geeignet.

Pierre-Olivier Clouet

Andrew Black: Was hat Sie die Erfahrung mit dem Frost gelehrt?

Pierre-Olivier Clouet: Die Bedeutung des Nachschnitts. Wir haben gleich nach dem Frost jede Parzelle neu beschnitten, allerdings nur jede zweite Reihe. Wir wollten sehen, welchen Unterschied es macht, ob die Rebschenkel mit den erfrorenen Trieben bleiben oder nicht. Das Resultat war eindeutig: die beschnittenen Reben reagierten besser und brachten später mehr und qualitativ bessere Trauben hervor.

Andrew Black: Haben Sie nach dem Nachschnitt die Erziehung geändert?

Pierre-Olivier Clouet: Nein, wir haben die Reberziehung nicht geändert und auch die Laubwand nicht verkleinert. So haben die zweiten Trauben profitiert von der vergleichsweise größeren Anzahl an Blättern.

Andrew Black:  Woher kommt die verbreitete Auffassung, dass die zweite Traubengeneration weniger gut ist als die erste?

Pierre-Olivier Clouet: Auch wir gingen davon aus, dass die zweiten Trauben sauer und viel zu dickschalig sind. Aber das ist nur dann der Fall, wenn die Trauben nicht zur vollen Reife gebracht werden. Zugegeben, in 2017 half uns das Wetter. Ende des Sommers war es wunderschön, es fiel kein einziger Regentropfen. Die Véraison, die Dunkelfärbung der Trauben, vollzog sich bei der zweiten Traubengeneration zum selben Zeitpunkt wie Véraison der ersten Trauben im kühlen Jahr 2014: also etwas später als normal, aber nicht viel später.

Andrew Black: Wie wird sich der 2017er Cheval Blanc eines Tages präsentieren?

Pierre-Olivier Clouet: Es wird aus dreierlei Gründen ein besonderer Wein sein. Erst einmal, weil er, wie gesagt, aus ersten und zweiten Trauben zusammengestellt wurde. Zweitens, weil er einen ungewöhnlich hohen Anteil an Cabernet Sauvignon aufweisen wird, wahrscheinlich rund 10 Prozent. Das hat es auf Cheval Blanc noch nie gegeben. Aber Cabernet Sauvignon hat dem Frost besser standgehalten als Merlot und Cabernet franc.

Andrew Black: Und drittens?

Pierre-Olivier Clouet: Der Frost hat vor allem Parzellen mit lehmhaltigen Untergrund getroffen. Das bedeutet: Es fehlt eine Facette im Vergleich zu den anderen Jahrgängen. Die zweiten Trauben aus diesen Parzellen haben einen anderen Reifezyklus mitgemacht. Während die ersten Trauben im heißen, trockenen Sommer ihren Reifeprozess begannen, konnten die zweiten Trauben erst im kühleren Spätsommer reifen. Im finalen Cheval Blanc-Blend finden sich also Trauben aus einem heißen und einem kühlen Jahr wieder. Anders gesagt: vollmundige, komplett sonnengereifte Trauben mit dunkler Beerenaromatik zusammen mit duftigen rotbeerigen Aromen, die von Frische und Säure geprägt sind.

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Autor

Jens Priewe
Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

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