Die Chianti Classico-Erzeuger haben ein dreistufiges Klassifikationsmodell eingeführt. Über dem Jahrgangswein (Annata) und der Riserva steht jetzt als Krönung die Gran Selezione. „Ein historischer Tag“, freute sich Sergio Zingarelli, der Präsident des Consorzio Gallo Nero bei der offiziellen Verkündung der Neuerung im Februar in Florenz.
„Neue Benchmark in der Weinszene“
Drei Jahre lang hatten die Verantwortlichen an einem Konzept gearbeitet. Ihr Ziel: Die vorhandenen Qualitäten genauer zu differenzieren, vor allem die immer noch zahlreichen Supertuscans heim ins Chianti Classico-Gehege zurückzuholen, zumindest jene Supertuscans, die auf der toskanischen Leitsorte Sangiovese basieren. Ein durchaus löbliches Unterfangen. Gran Selezione – das soll der Leuchtturm sein (oder werden), der das berühmte Anbaugebiet zwischen Florenz und Siena in ein neues, strahlendes Licht taucht. „Die Gran Selezione wird aus den Trauben der besten Weinberge eines Weinguts gewonnen, nach strengen Regeln und noch strengeren Kontrollen.“ Und: „Die Gran Selezione stellt eine neue Benchmark in der Weinszene der Welt dar.“
Große Worte. Fakt ist, dass die Klassifikation so, wie sie jetzt ist, nichts mit dem zu tun hat, was im Burgund, in Bordeaux, in Deutschland („Erste Lage“) und in der Steiermark („Große Lage“) Klassifikation heißt. Es sind weder Weinberge noch Betriebe klassifiziert. Jedes Weingut hat das Recht, aus den Trauben seines besten Weinbergs eine Gran Selezione zu erzeugen. Die Einschätzung, ob ein Weinberg gut genug für eine Gran Selezione ist, trifft der Produzent selbst. Sicher, der Wein wird später analytisch und sensorisch kontrolliert. Aber das ist bei Riserva und Annata auch jetzt schon so. Eine Selbstklassifikation also.
Neue Klassifikation ein Papiertiger
Hinzu kommt, dass im Statement des Präsidenten absichtsvoll von „Trauben der besten Weinberge“ die Rede ist. Der Plural zeigt an, dass eine Gran Selezione von mehreren Weinbergen kommen kann. Eine derartige Gran Selezione mag ein guter Wein sein, ist aber kein Terroir-Wein – also das, was die Vertreter dieser Top-Kategorie eigentlich sein sollten und sein wollen. Wenn man dann noch sieht, dass ein Produzent wie Ruffino 500.000 Flaschen Gran Selezione in einem Jahrgang produziert (seine gesamte Riserva Ducale Oro gehört jetzt in diese Kategorie), wird endgültig klar, dass die neue Klassifikation ein Papiertiger ist.
Auch unterscheiden sich die im Reglement verbrieften Qualitätskriterien für die Gran Selezione nur marginal von den Kriterien, die für eine Chianti Classico Riserva gelten. Die Minimum-Extraktwerte wurden von 25 auf 26 Gramm/Liter angehoben, der Verbleib im Keller von 24 auf 30 Monate erhöht. Keine Revolution. Die Option, 20 Prozent andere Sorten als Sangiovese zu verwenden, gilt für beide Weine. Bei der Deckelung der Traubenerträge unterschieden sich Riserva und Gran Selezione ebenfalls nicht. Mit 7.500 Kilogramm pro Hektar liegen diese übrigens viel zu hoch. Ein Grand Cru im Burgund liegt bei umgerechnet rund 4.500 Kilogramm.
Pathetische Umbenennung der bisherigen Riserva
Natürlich ist es Chianti Classico-Erzeugern gestattet, die Höchsterträge zu unterschreiten – was wirklich gute Betriebe auch tun. Besser gesagt: schon immer taten. Jene Weine, die sich in den letzten Jahren als große Sangiovese-Gewächse einen Namen gemacht haben, erfüllten (beziehungsweise übererfüllten) die Gran Selezione-Vorgaben schon immer. So betrachtet, ist die Gran Selezione kaum mehr als eine pathetische Umbenennung der bestehenden Riserva-Weine.
Sicher, unter den 30 Gran Selezione, die im Februar in Florenz vorgestellt wurden, waren hochfeine, exzellente Weine. Etwa Ricasolis 2010er Chianti Classico „Colledilà“, der Wein einer herausragenden Einzellage. Aber im Jahr vorher war er genauso gut, auch wenn er nur als einfacher Chianti Classico etikettiert war. Ähnliches gilt für Antinoris Chianti Classico Badia a Passignano, früher Riserva, jetzt Gran Selezione. Oder für die Riserva von Castello di Ama, die jetzt ebenfalls Gran Selezione geworden ist: gleicher Wein, neues Gewand. Pikanterie am Rande: Amas Lagenweine Bellavista und Casuccia bleiben einfache Chianti Classico, obwohl in der Betriebshierarchie und auch preislich deutlich über der Gran Selezione liegend. Gran Selezione ist in der Realität also nicht immer die Spitze des Eisbergs.
Einige bleiben lieber Supertuscan
Übrigens ist die Begeisterung über die Gran Selezione bei den Produzenten noch nicht durchschlagend. Führende Weingüter wie Fèlsina, San Giusto di Rentennano, Querciabella, Riecine, Monsanto oder Brancaia haben sich bis jetzt noch nicht an der Gran Selezione beteiligt. Und manch reinsortiger Sangiovese-Supertuscan hat sowieso nicht vor, freiwillig ins Chianti Classico-Gehege zurückzukehren, weder Le Pergole Torte noch Cepparello.
Bleibt die Frage, wozu das Ganze? Böse Zungen behaupteten in Florenz, die neue Klassifikation diene der Selbstbefriedigung der Produzenten. Richtig ist, dass der Wunsch nach Ordnung im Chaos der Herkünfte und Qualitätsstufen in der Toskana groß ist. Aber die Ordnung darf nicht vordergründig sein. Viele Riserve sind genauso so gut oder besser wie die Gran Selezione – Stand heute. Und morgen? Dass die Gran Selezione wirklich einmal jene rare Spezialität wird, die dem Consorzio Gallo Nero vorschwebt, ist nicht zu erwarten, solange es keine valide Klassifikation der Weinberge gibt nach dem Vorbild Burgund, den deutschen Großen Gewächsen oder den steirischen Großen Lagen.
Der Markt braucht keine Gran Selezione
Überhaupt stellt sich die Frage, ob die neue „Klassifikation“ mehr Orientierung oder mehr Verwirrung bringt. Der Handel verlangt keine Gran Selezione. Der Konsument braucht sie ebenfalls nicht. Einer, der 30 bis 40 Euro für einen Wein aus dem Chianti Classico auszugeben bereit ist, weiß genau, was die Crème ist und was nicht. Beide, Konsumenten und Handel, fürchten dagegen, dass die neue Spitze des Chianti Classico bei gleicher Qualität am Ende nur höhere Preise zur Folge haben wird. Gemunkelt wurde in Florenz von Preiserhöhungen zwischen 30 und 80 Prozent gegenüber den bisherigen Riserva-Preisen in den nächsten Jahren. Sollten sich die Gerüchte bewahrheiten, wäre die Gran Selezione gestorben, bevor sie das Licht der Welt so richtig erblickt hat.
Die ersten Gran Selezione des Chianti Classico
2010 Chianti Classico Gran Selezione „Colledilà“ | Barone Ricasoli
Marzipankirsche, Waldfruchtkompott, Bittermandel im Bouquet, schöne, frische Säure, griffiges Tannin: unverbogener, großer Wein, hohe Eleganz (100% Sangiovese, 20.000 Flaschen).
Bewertung: 94/100
2010 Chianti classico Gran Selezione „Vigna del Sorbo“ | Fontodi
Packender Wein, geschmacklich ein wilder Beerencocktail mit viel Lakritz, Zedernholz, Wacholder und rausamtigem Tannin: großes Gewächs! (5% Cabernet Sauvignon, 5.000 Flaschen).
Bewertung: 94/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione „Il Puro“ | Castello di Volpaia
Wein am Limit: hohe Reife an der Grenze zur Überreife, Anflug von Portweinnoten, dennoch frisch, perfekt verschmolzenes Tannin, große Zukunft (100% Sangiovese, 2.000 Flaschen).
Bewertung: 93/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione | Castello di Fonterutoli
Extrem tief und nachhaltig, dabei zartfruchtig mit feinem, gut verschmolzenem Tannin: eleganter Wein, der fast schwerelos über die Zunge läuft (8% andere Sorten, 60.000 Flaschen).
Bewertung: 93/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione „Vigna del Canpannino“ | Bibbiano
Packender Wein mit stabilem Tanningerüst, aber seidig-weicher Textur mit Sauerkirsch- und Brombeernoten, viel Extraktsüße: sehr gelungener Wein (100% Sangiovese, 4.000 Flaschen).
Bewertung: 92/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione | Lornano
Tiefer Velchen- und Zedernduft, im Hintergrund Graphit und süße Lakritze, geschliffene Frucht, rauhsamtiges Tannin: elegant und doch bissig (15% Merlot, 10.000 Flaschen).
Bewertung: 92/100
2009 Chianti Classico Gran Selezione „Don Vincenzo“ | Casaloste
Begeisternder Wein mit herrlicher Sangiovese-Nase, Süßholz, Bittermandel, Waldbeeren-Cocktail, packendes Tannin, vielleicht etwas ungestüm, aber im Rahmen (100% Sangiovese, 4.000 Flaschen).
Bewertung: 92/100
2010 Chianti classico Gran Selezione | Castello di Ama
Sehr sauberer, feinduftiger Wein, nicht konzentriert, aber dicht gewoben mit gut integriertem Tannin, nachhaltig und elegant, ersetzt die seit 2008 produzierte Riserva (15% Merlot und Cabernet Sauvignon, 100.000 Flaschen).
Bewertung: 92/100
2010 Chianti classico Gran Selezione „Castello di Brolio“ | Barone Ricasoli
Herb-fruchtig mit süßen Konfitürenoten, massig Tannin, großer Aromentiefe, feine Säure: sehr geordneter Wein von disziplinierter Fülle (20% Merlot und Cabernet Sauvignon, 88.000 Flaschen).
Bewertung: 92/100
2009 Chianti Classico Gran Selezione „Badia a Passignano“ | Antinori
Gekonnter, nicht auf Schwere getrimmter Wein mit feinem, gut abgestimmten Tannin, zarter Säure, vanilliger Süße, natürlicher Balance (100% Sangiovese, 92.000 Flaschen).
Bewertung: 91/100
2011 Chianti Classico Gran Selezione | San Vincenti
Aromentiefer Wein mit Anklängen von Wildkirsche und Fliederbeere, sehr saftig bei guter Struktur, eigener Terroir-Typ (15% Merlot, 6.600 Flaschen).
Bewertung: 91/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione „Bruciagna“ | Castello La Leccia
Noch verschlosssener Wein mit Noten von dunklen Früchten, Wacholder, Lorbeer: reicher, druckvoller Wein mit viel Länge und großer Aromentiefe (100% Sangiovese, 4.000 Flaschen).
Bewertung: 91/100
2009 Chianti Classico Gran Selezione | Vignole
Herrliches Bouquet mit reifer Brombeere, Teer, Lakritz, seidiges Tannin, im Inneren voller Facetten: höchst erfreulicher Wein (10% Cabernet Sauvignon, 6.000 Flaschen).
Bewertung: 91/100
2011 Chianti Classico Gran Selezione „Vigna Grospoli“ | Fattoria di Lamole
Herrlicher Duft von Brombeerkonfitüre, Rumkirsche, Zedernwürze, elegante Textur, mittlere Länge, bissige Säure, gelungener Wein aus einer alten terrassierten Lage, (100% Sangiovese, 1.500 Flaschen).
Bewertung: 90/100
2011 Chianti Classico Gran Selezione | I Fabbri
Kraftvoller, muskulöser Wein mit viel Fleisch, bestens strukturiert, gezähmte Kraft (100% Sangiovese, 2.500 Flaschen).
Bewertung: 90/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione „Vigna La Prima“ | Castello Vicchiomaggio
Sauberer und auch kräftiger Wein, ausdrucksvolle Frucht, milde Säure, etwas braves Tannin (100% Sangiovese, 10.000 Flaschen).
Bewertung: 90/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione „Il Margone“ | Molino di Grace
Tiefes Bouquet von schwarzen Johannis- und Brombeeren, gut strukturiert, ohne überladen zu sein: schöner, schon ansatzweise entwickelter Wein (100% Sangiovese, 15.000 Flaschen).
Bewertung: 90/100
2011 Chianti Classico Gran Selezione „La Forra“ | Nozzole
Spielerisch leicht und fruchtig in der Nase, mit süßen Konfitürenoten, am Gaumen eher sanft und nicht sonderlich druckvoll, elegant (100% Sangiovese, 4.500 Flaschen).
Bewertung: 89/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione | Colle Bereto
Wein mit großer Struktur, aber etwas locker gewoben, dabei viel Neuholz und hoher Alkohol (100% Sangiovese, 15.000 Flaschen).
Bewertung: 89/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione „L’Imperatrice“ | Fattoria di Corsignano
Weit ausholender Wein, wuchtig und in die Breite gehend, letztlich nicht auf den Punkt kommend: schade (100% Sangiovese, 1.500 Flaschen).
Bewertung: 89/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione „Cellole“ | San Fabiano Calcinaia
Kraftvoller, geradezu opulenter Wein, viel dunkle Frucht, Massen von Tannin, wirkt aber überextrahiert und auf Schwere getrimmt, schwierige Prognose (10% andere Sorten, 18.000 Flaschen).
Bewertung: 89/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione „Il Grigio“ | San Felice
Sehr solide Riserva mit schöner Frucht und mittlerem Tannin, stilistisch konventionell und bieder (20% andere Sorten, 40.000 Flaschen).
Bewertung: 89/100
2010 Chianti classico Gran Selezione „Sergio Zingarelli“ | Rocca delle Macie
Dicht gewobener Wein mit klassischer Sangiovese-Eleganz, moderates Tannin, vergleichsweise milde Säure, mittlerer Spannungsboden (5% Colorino, 5.700 Flaschen).
Bewertung: 89/100
2010 Chianti classico Gran Selezione „Vigna Bastignano“ | Villa Calcinaia
Karger Wein mit wenig Saft, aber viel gesundem Tannin, schöner, frischer Säure, angedeuteter Tiefe, nicht überladen (100% Sangiovese, 1.500 Flaschen).
Bewertung: 89/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione „Lama della Villa“ | Fattoria di Lamole
Rustikaler Wein mit massigem, aber etwas grobkörnigem Tannin, fleischig-streng in der Nase, kantig, viel Substanz, wenig Eleganz (100% Sangiovese, 1.000 Flaschen).
Bewertung: 88/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione „Ottantuno“ | Luiano
Kraftvoller, aber etwas weit ausladender Wein, unscharf im Bouquet, Durchhänger am Gaumen, insgesamt auseinanderstrebend, dabei erstaunlich weit entwickelt (15% Merlot, 10.000 Flaschen).
Bewertung: 88/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione Riserva Ducale Oro | Ruffino
Etwas karger Wein mit gleichwohl guter Tanninstruktur, wirkt bieder und hat es in der Gran Selezione-Liga schwer (10% Merlot, 10% Cabernet Sauvignon, 500.000 Flaschen).
Bewertung: 88/100
2011 Chianti Classico Gran Selezione „Beatrice“ | Viticcio
Kräftig strukturierter, leicht neuholzlastiger Wein mit störenden Joghurt-Noten in der Nase bei gleichzeitig überreifer Frucht, ungehobelt, unbalanciert (5% Cabernet Sauvignon, 10.000 Flaschen).
Bewertung: 87/100
2010 Chianti Classico Gran Selezione | Fattoria di Montemaggio
Gute Substanz, aber undifferenzierte Nase, am Gaumen süß-säuerlich, unpräzise und ohne Balance (10% Merlot, 9.000 Flaschen).
Bewertung: 87/100
2007 Chianti Classico Gran Selezione „Millenium“ | Losi Querciavalle
Unspektakulärer, flauer Wein, plätschert orientierungslos über den Gaumen, bleibt wenig haften (10% andere Sorten, 2.000 Flaschen).
Bewertung: 87/100