Ende letzter Woche kam Robert Parkers „The Wine Advocate“ mit seinen Bewertungen für Bordeaux 2015 raus. Es ist das erste Mal, dass der Amerikaner nicht selbst die en primeur-Verkostungen vornimmt. Sein langjähriger Mitarbeiter Neal Martin ist ab sofort mit den Verkostungen beauftragt – ein Umstand, der an den Märkten mit Neugier bzw. Unruhe registriert wird.
Martin, unstrittig ein erfahrener und guter Bordeaux-Verkoster, zeichnet ein differenziertes Bild des Jahrgangs. Insgesamt stuft er 2015 als excellent vintage ein, konstatiert aber bereits im frühen Stadium spürbare Unterschiede zwischen den Appellationen und den Châteaux. Das homogen-hohe Niveau der 2009er und 2010er weisen die 2015er seiner Meinung nach nicht auf.
Die besten Weine kommen seiner Ansicht nach aus dem südlichen Médoc, speziell aus Margaux und Pessac-Léognan, sowie vom rechten Ufer aus St. Emilion und Pomerol, wo Merlot und insbesondere Cabernet franc grosse Qualitäten hervorgebracht zu haben scheinen. Die Spitzen des Jahrgangs übersteigen das Niveau der 2005er, meint er.
Ein glatter 100 Punkte-Wein ist diesmal jedoch nicht dabei (im Gegensatz zu 2005, wo Parker zwölf Weinen die Höchstnote gegeben hatte). Top-Bewertungen (98-100) bekommen diesmal die Weine von Haut Brion, Margaux, Vieux Château Certan, Pétrus und – Riesenüberraschung – Canon. Knapp dahinter (97-99) platzieren sich Cheval Blanc (das diesmal so arrogant ist, keinen Zweitwein zu produzieren, weil alle Parzellen nach Château-Einschätzung Top-Qualitäten geliefert haben), Le Tertre Rôteboeuf, La Mission-Haut Brion, Mouton-Rothschild, Lafleur und das unter Michel Rolland erstarkte Château Figeac.
Am linken Ufer kommt selbst Latour (95-97) nicht an diese Spitzengruppe heran, auch nicht an seinen Nachbar Pichon-Longueville Baron, dessen Wein mit (96-98 Punkten) höher bewertet wird als der Premier Cru. Auf Latour-Niveau liegt Pichon Longueville Lalande, das nach eigener Einschätzung einen ganz großen Wein im Keller hat. Mit 94-96 Punkten abgeschlagen ist Lafite. Auch Lynch Bages und der teilweise auf Premier Cru-Niveau gehandelte Wein von Pontet Canet konnten den Amerikaner nicht voll überzeugen. In Pauillac wird die Hierarchie also ziemlich durcheinander gewirbelt.
In Pessac-Léognan glänzen neben Haut Brion und La Mission vor allem Pape Clément sowie die wesentlich preiswerteren Weine von Domaine de Chevalier, Haut Bailly und Smith-Haut-Lafitte (alle 95-97). In Margaux steht der Wein von Château Margaux allein auf weiter Flur – für den kürzlich verstorbenen Direktor Paul Pontallier eine große Genugtuung. Mit deutlichem Abstand folgt Rauzan-Ségla (96-98), das in Martins Ranking den Wein von Palmer diesmal ausgestochen hat (97-97). Giscours, Malescot-St. Exupéry und d’Issan folgen mit gebührendem Abstand, abgeschlagen Lascombes.
In St. Emilion konnte Graf Neipperg weder mit La Mondotte (94-96) noch mit Canon-La-Gaffelière (93-95) den ganz großen Lorbeer ernten. Hinter dem Spitzen-Quadriga aus Canon, Cheval Blanc, Figeac und Le Tertre Rôteboeuf platzierten sich mit Pavie (96-98) und Valandraud (95-97) zwei klassische Parker-Favoriten. Unter den hohen Erwartungen geblieben sind dagegen die Weine von Ausone und Angélus, beides Grands Crus Classés A. Punktemäßig nicht schlechter gestellt als sie sind (der ebenfalls sehr teure) Belair-Monange aus dem Moueix-Imperium und der wesentlich preiswertere Clos Fourtet. Ein wenig enttäuschend auch Beau Séjour-Bécot (93-95), den man in der Vergangenheit schon in höheren Punkterängen gesehen hat.
Im Pomerol liegen die üblichen Verdächtigen vorn, wobei der Wein von Le Pin nicht zur Verkostung stand. Auffällig höchstens, dass Trotanoy diesmal nicht zu den Spitzen gehört (94-96).
Fazit: Auch wenn die 2015er Weine excellent sind – nicht jeder wird seinem Ruf gerecht und ist seinen exorbitant hohen Preis wert.