Château Margaux: 13,1 Vol.%, Château Latour: 13,1 Vol.%, Château Lafite Rothschild 12,8 Vol.% – solche moderaten Alkoholwerte hat es in Bordeaux schon lange nicht mehr gegeben. Spötter sehen diese Gradationen als Ausdruck der schwierigen Klimabedingungen des Jahrs 2011. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn wer den Hindernisparcours von Trockenheit, Hitze und herbstlichem Starkregen mit nachfolgenden Botrytisattacken zu meistern wusste, hat ausgezeichnete Weine von klassischem Zuschnitt im Keller.
Zum Beispiel Lafite. Meiner Meinung nach einer der besten Weine des Jahrgangs: „kühl“ und präzise in seinen frischfruchtigen Aromen, am Gaumen von einer altmodischen Stoffigkeit mit handwerklich extrahiertem, reifem Tannin, dabei hintergründig, saftig, mineralisch und in seinem vergleichsweise schmalen Alkoholrahmen kein bisschen leicht wirkend.
Lafite – einer der besten des Jahrgangs
Wie ist es möglich, dass hier ein so makelloser Wein entstanden ist, in diesem schwierigen Jahr? Christophe Salin, Vertriebschef des Château, hat eine einfache Erklärung: „Es kam auf den richtigen Lesezeitpunkt an. Seit August waren wir alle zwei Tage im Weinberg, um reihum in allen Parzellen Trauben zu kosten. So konnten wir überall im richtigen Moment lesen – genau dann, als die Gerbstoffe schon reif waren, aber die Frucht noch ihre ganze Frische besaß.“
Doch auch diese Aussage ist wahrscheinlich nur die halbe Wahrheit, denn natürlich waren schon früher während der gesamten Saison umfangreiche Weinbergsarbeiten erforderlich, um die Trauben gesund zu erhalten. Die chefs de culture, wie in Bordeaux die für den Weinberg zuständigen leitenden Angestellten heißen, berichten von der dauernden Notwendigkeit, schwierige Entscheidungen zu treffen: Entblättern in der Traubenzone hilft gegen Botrytis (weil die Trauben dann vom Wind getrocknet werden können), erhöht aber die Gefahr, dass die Trauben Sonnenbrand bekommen. Eine große Menge Laub versorgt die Trauben besonders gut mit Inhaltsstoffen (vor allem Zucker), sorgt jedoch gleichzeitig dafür, dass der Rebstock in trockenen Phasen viel Wasser durch Verdunstung verliert. Nur wenige Güter hatten das Können – und wohl auch das nötige Quäntchen Glück – um bei diesen Entscheidungen immer die richtige Wahl zu treffen.
Palmer verlas die Trauben per Scanner
Große Bedeutung kam zweifellos auch der Selektion bei der Lese zu. Auf Château Palmer beispielsweise, wo man Ende des Sommers aufgrund von Trockenheit und Hitze sogar damit rechnete, den Jahrgang ganz ausfallen lassen zu müssen, setzte man bei der Lese optische Sortiergeräte ein. Förderbänder, auf denen die Trauben wie an der Kasse eines Supermarkts an einem Scanner vorbeigeführt werden, der die von Fäulnis befallenen erkennen und ausscheiden kann. Freilich vertraute man auch diesen Geräten nicht blindlings. Der optische Sortiertisch wurde nur zur Vorauswahl genutzt – alle Trauben, die er passieren ließ, wurden anschließend nochmals von Hand verlesen.
Weniger engagierte Güter oder solche, die durch ihre finanzielle Situation oder die Güte des Weinbergs weniger privilegiert sind, haben jedoch häufig substanzielle Fehlschläge gekeltert. Bitternis, grüne Tannine, Brandigkeit, pilzige und medizinale Aromen – all solche Phänomene begegnen einem beim Verkosten des 2011er Jahrgangs, in wechselnden Kombinationen und zuweilen auch durch kosmetische Retuschen mehr oder weniger wirkungsvoll verdeckt.
Pomerol besser als St-Émilion
Das Verkosten der Jungweine erforderte dieses Jahr einen extremen Grad an Wachsamkeit, denn viele Weine, die beim ersten Kontakt annehmbar erschienen, offenbarten bei wiederkehrender Beschäftigung mehr und mehr Defekte.
Bei der Subskription der 2011er ist entsprechende Vorsicht geboten. Ein generelles “Hände weg!” wäre indes verfehlt, denn wer sorgfältig auswählt, kann ausgezeichnete Weine zu einem wahrscheinlich attraktiven Preis erwerben. Pauschal kann man sagen, dass am rechten Ufer Pomerol deutlich bessere Ergebnisse erzielt hat als St-Émilion. Am linken Ufer sind Pauillac und St-Julien am wenigsten heterogen. In diesen drei genannten Appellationen lassen sich übrigens auch unterhalb der Lafite-Preisklasse sehr gelungene Weine finden – zu deutlich erschwinglicheren Preisen.
Einen fairen Gegenwert fürs Geld bieten auch manche Weine aus dem unteren Médoc – auf den dortigen Lehmböden litten die Reben offenbar etwas weniger unter Trockenstress. Einen Blick auf die vermutlich schon bald vorliegenden Preislisten verdienen last not least auch zwei Weintypen, die man meist übersieht: Die trockenen Weißweine aus Pessac-Léognan sind in 2011 sehr gut geraten und die edelsüßen aus Sauternes und Barsac ganz ausgezeichnet.
Erfolgsgeheimnis 2011: Fortune und gutes Terroir
Es scheint ganz so, als habe der Jahrgang 2011 die Schönwetterwinzer von den wahren Könnern und peniblen Enthusiasten getrennt. Doch auch das ist nur die halbe Wahrheit, denn Bemühen und Einsatz allein haben in 2011 nicht ausgereicht, um Spitzenresultate zu erzielen. Château Palmer beispielsweise hatte mit 20,3 hl/ha den niedrigsten Ertrag seit 1961. Trotzdem ist der Wein nur gerade ordentlich und gut. Auf Lafite Rothschild hat man 50 hl/ha geerntet – mehr als das Doppelte. Das terroir macht den Unterschied, kann man da wohl nur sagen – und zum terroir gehört natürlich auch der Winzer und nicht zuletzt dessen fortune.