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Abnehmen mit Rotwein? Nonsense!

„Lass dir den Rotwein schmecken, aber glaube nicht an Wunder.“ Mit diesem coolen Statement haben Mediziner des British National Health Service (NHS) auf zahlreiche irreführende Berichte reagiert, die seit Jahren durch Zeitungen und Zeitschriften geistern. Deren Botschaft: Rotweintrinken führe zu Gewichtsverlust. „Nonsense“ sagen die Gesundheitswächter von der Insel. Schon gar nicht gelte die Formel, dass der Gewichtsverlust umso größer sei, je mehr Rotwein getrunken werde. Im Gegenteil: „Eine Flasche Rotwein hat ungefähr 570 Kilokalorien, damit wird jeder theoretische Abnehmeffekt mehr als kompensiert.“

Wunsch: Schlankwerden ohne Anstrengung

Verantwortlich für den angeblichen Gewichtsverlust sollen Polyphenole sein, insbesondere das Resveratrol. Diese Substanz ist in Blaubeeren, Pflaumen, Maulbeeren, in der Passionsfrucht und auch in roten Trauben enthalten. Er hat die Eigenschaft einer kalorischen Restriktion. Das heißt: Er besetzt die Insulinrezeptoren im menschlichen Organismus und verhindert so das langsame Wachsen der Fettzellen im Körper. Daraus wird der Schluss gezogen, dass es bei Aufnahme einer genügend großen Menge Resveratrol zu einem Kalorienabbau kommt. Schlankwerden ohne Anstrengung.

Wundermittel Resveratrol

Ein entsprechender Wirkungszusammenhang ist tatsächlich in zahlreichen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen worden. Das hat dazu geführt, dass Resveratrol plötzlich als Wundermittel gegen Übergewicht, Tumorbildungen, Entzündungen aller Art, vor allem gegen die Verfettung der Herzkranzgefäße und damit gegen Herzinfarkt und Schlaganfall bezeichnet wird. weinkenner.de hat mehrmals darüber berichtet und wegen der meist dünnen Beweislage seine Zweifel angemeldet.

Resveratrol in Rotweintrauben

Doch die Verführung, aus wissenschaftlichen Untersuchungen falsche Schlüsse zu ziehen, scheint bei den Medien groß zu sein – besonders wenn es um Diäten geht. „Trauben machen Traum wahr“ titelte Focus Online vor ein paar Monaten wieder einmal – den Traum vom Abnehmen ohne Hungerdiät. Anlass war ein Bericht der englischen Boulevard-Zeitung Daily Mail. Sie berichtete von einem Professor, dessen Mäuse weniger Fett ansetzten, wenn ihr Futter mit einem Extrakt aus Rotweintrauben versetzt worden war. Die Besucher der Focus-Website konnten sich gleich ein Video anschauen mit dem Titel: „Wunderstoff Resveratol: Warum Sie öfter Rotwein trinken sollten“.

„Trinken Sie keine Milch, aber Rotwein“

Noch weiter ging Bild Online. Es forderte seine diätenden Leserinnen und Leser auf: „Trinken Sie keine Milch, aber Rotwein!“ Rotwein habe, so erfuhren die Leser, offenbar keinen negativen Einfluss auf den Fettabbau im Körper. Fit for Fun, das Magazin für Waschbrettbäuche, berichtete über eine israelische Studie, bei der fettes Essen mit Rotweinextrakt versetzt worden war.

Bei den Testpersonen konnte hinterher ein merklicher Anstieg des MDA-Spiegels im Blut festgestellt werden (Indikator für Fett zerstörende Moleküle im Stoffwechsel). „Rotwein neutralisiert Fett“ lautete die Schlagzeile. Allerdings hält die Studie wissenschaftlichen Kriterien kaum stand. Nur zehn Personen hatten an ihr teilgenommen.

Fettzellenbildung verhindert

Auch apotheken.de, das Online-Portal der deutschen Apotheker, schürte den Glauben an die gewichtsreduzierende Wirkung des Rotweins. Es stützte sich in einem Artikel auf Forschungen amerikanischer Wissenschaftler, die einen Stoff namens Piceatannol untersucht hatten. Er ist unter anderem in Rotwein enthalten und ähnelt stark dem Resveratol: „In Gegenwart von Piceatannol wird die Fettzellenbildung verzögert oder komplett blockiert“, werden die Wissenschaftler zitiert. Die Überschrift des Apotheker-Artikels lautet denn auch „Mit Rotwein abnehmen“. Vorsichtshalber versahen die Autoren sie mit einem Fragezeichen. Denn die Menge des im Rotwein enthaltenen Piceatannols ist, so müssen sie am Ende ihres Artikels eingestehen, „zu gering, um die Pfunde purzeln zu lassen“.

570 Kilokalorien in einer Flasche Rotwein

Anlass für die Warnung der britischen Gesundheitsfunktionäre ist eine weitere Studie, die kürzlich im Internation Journal of Obesity veröffentlicht wurde. Danach war wieder mal ein Zusammenhang zwischen der Gabe von Resveratrol und dem Gewichtsverlust bei Mäusen beschrieben worden. „Wir wissen aber nicht, ob Forschungsergebnisse, die auf Mäuse-Untersuchungen basieren, auch für Menschen gelten“, bemängeln die Fachleute vom britischen Gesundheitsamt und fügen ironisch hinzu. „Denn Mäuse trinken nicht täglich Rotwein.“ Vor allem aber bezweifeln sie, „ob die Menge an Resveratrol im Rotwein ausreicht, einen ähnlichen Effekt hervorzurufen – oder nicht zum Gegenteil führt.“

Das Gegenteil wäre eine Gewichtszunahme durch Wein. Wie viel 570 Kilokalorien sind, die eine Flasche normaler Rotwein enthält, sagen die Herren von der Gesundheitsbehörde auch: „mehr als zwei McDonald’s Hamburger“.

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Autor

Jens Priewe
Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

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