Die Primeurweine des Jahrgangs 2009 haben einen noch nie dagewesenen Hype entfacht, und inmitten der ganzen Euphorie wurde kein Wein mit größeren Begeisterungsstürmen gefeiert als das Fassmuster des “Super Deuxième Cru” Château Cos d’Estournel. James Suckling schwärmt im Wine Spectator von einem “unglaublich exotischen Wein, möglicherweise dem besten je (auf dem Château) produzierten”. Robert Parker nennt ihn “einen der größten Jungweine, die ich je verkostet habe – weltweit”. Und auch der Schweizer Weinkritiker René Gabriel findet getragene Worte: “Die gewaltige Konzentration meistert der erhabene 09er Cos d’Estournel königlich und zelebriert eine royale Finesse (…)”.
Royal, daran mag etwas sein. Zumindest erinnern die Reaktionen auf den 2009er Cos ein wenig an das Märchen von “des Kaisers neue Kleider”. Denn der 2009er Cos ist ein höchst ambivalenter Wein. Bei meiner Verkostung auf dem Château bekam ich ihn stark gekühlt serviert. Ein Bauerntrick, um die geschmackliche Auswirkung des Alkohols zu kaschieren.
Das Château gibt 14,5 Vol.% als Alkoholgehalt an: das dürfte eher ab- als aufgerundet sein. Im Duft zeigte der Wein alle Anzeichen einer enzymatischen Behandlung vor Beginn der Gärung. Durch Zugabe von Enzymen können Moleküle aufgespalten werden, die in den Beeren als Aromavorstufen enthalten sind. Normalerweise wandeln sie sich erst während der Flaschenreife in Aromastoffe. Die Folge der Enzymbehandlung jedoch ist ein turbo-fruchtiger Jungwein mit einer unverkennbar artifziellen Note.
Überdies war der Wein – selbst bei einer Serviertemperatur von etwa 14 Grad – als alkoholisch zu erkennen, und zudem als überextrahiert. Zugegeben: Alle guten Bordeaux enthalten Gerbstoff in rauen Mengen. Doch wenn ein Wein dermaßen viel Tannin aufweist wie der 2009er Cos d’Estournel – und dazu auch grünes, offenbar durch Trockenstress der Reben hervorgerufenes – dann geht es dem Weingut ganz offenkundig nur um den Effekt und nicht darum, die drei Säulen eines klassischen Bordeaux’ auf ein sicheres Fundament zu stellen: Balance, Alterungsvermögen und Trinkfreude.
Zurück zu “des Kaisers neue Kleider”. Anders als im Märchen, hatten während der Primeur-Kampagne einige Kommentatoren den Mut, auf die Nacktheit der selbsternannten Majestät hinzuweisen. Beispielsweise Serena Sutcliffe, Direktorin von Sotheby’s International Wine Department. Sie hatte für den 2009er Cos nur ein einziges Wort übrig: “desaster”. Auch Jancis Robinson legt den Finger in die Wunde: “Ich verstehe einfach nicht, warum man Trauben dermaßen reif werden lässt”, schreibt sie – und: “ein völlig übertriebener Wein”.
Warum dann die kollektive Hysterie? Auffällig ist, dass selbst die lautesten Claqueure unter den Weinkritikern in Untertönen Zweifel an dem Wein erkennen lassen. Gabriel schreibt: “Dieser Cos ist eine Art überfetter 1982er.” Überfett? James Suckling schreibt: “crazy nose”. Meint er das wirklich positiv? Und auch Stephen Spurrier rutscht im Decanter ein Hinweis auf seine Irritation durch: “wirklich ziemlich massiv, wird Jahre brauchen, um zur Finesse zu kommen, ein barocker, geradezu Port-artiger Wein, auf explosive Weise reich und definitiv eindrücklich, wenn auch kein typischer St-Estèphe”.
Wird Jahre brauchen, um zur Finesse zu kommen? Das ist wohl britisch-höflich für: Dieser Wein ist grobschlächtig. Und den abschließenden Halbsatz müsste eigentlich jeder Kenner als endgültiges Verdikt gegen den 2009er Cos lesen. Man stelle sich vor, der La Tâche der Domaine de la Romanée Conti würde beschrieben als: “eindrücklich, aber kein typischer Burgunder”. Oder Ernst Loosens Erdener Prälat würde als “eindrücklicher Weißwein, aber völlig untypisch für die Lage” bezeichnet. Der Aufschrei wäre groß.
Nur in Bordeaux scheint mal wieder alles anders zu sein – zumindest bei einem Jahrgang, der dazu ausersehen ist, die schwache Konjunktur der letzten zwei Jahre wett zu machen. So redet man sich eben auch einen völlig verunglückten Cos d’Estournel schön. Denn bei rund 280 Euro pro Flasche bleibt für jeden in der Wertschöpfungskette ein ordentlicher Batzen übrig.