Alle Theorie ist grau. Gajas 2007er Barbaresco mag auf dem Papier seinem Vorgänger unterlegen sein. Doch im Glas überstrahlt er den 2006er bei weitem. Und nicht nur ihn, sondern alle Jahrgänge des neuen Jahrtausends. Der Wein versteckt sich nicht, wie Nebbiolo-Weine es so häufig tun. Er ist offen, herrlich fruchtig, extraktsüß, gar nicht tanninhart.
Einen so feinen, typischen Barbaresco habe ich das letzte Mal vor 35 Jahren getrunken. Es war der 1974er Barbaresco von Giovannini Moresco, ein Wein, dessen Ruf damals in ganz Italien die Runde machte und der wahrscheinlich mehr Italiener zum Nebbiolo-Trinken bekehrt hat als der Heilige Franz weiland zum christlichen Glauben. Diesen Wein werde ich nie vergessen. Er war ähnlich hell in der Farbe. Er glänzte mit einer Pinot-ähnlichen Frucht. Er besaß Tiefe. Kurz: Er strahlte über das Glas hinaus.
Inzwischen dürfte der Wein ausgetrunken sein. Und den Herrn Giovannini-Moresco gibt es nicht mehr. Er hat Barbaresco verlassen. Zwar liebte er den Wein sehr. Aber noch mehr liebte er die Frauen. Seinen Weinberg hat er erst verpachtet, dann verkauft. Er gehört nun Gaja. In dessen Weinbergs-Portefeuille ist dieser Weinberg nur einer von 20, aus denen die Trauben für seinen Barbaresco kommen. Aber einer der besten.
Wenn es nur um Langlebigkeit und Struktur ginge, wäre Gajas 2006er Barbaresco wahrscheinlich der bessere Wein. Er ist insgesamt komplexer, damit aber auch schwerer, verschlossener, reifebedürftiger. Der 2007er kann gegen ihn nur jenen ungeheuren Fruchtcharme in die Waagschale werfen, dem der Herr Giovannini Moresco seinerzeit schon morgens erlag, als er noch schlaftrunken im Pyjama durchs Haus wankte auf der Suche nach einem sauberen Glas. Beziehungsweise zwei. Ich wollte auch einen Schluck haben.
Manche Weinproduzenten vergleichen den Jahrgang 2007 mit dem ebenfalls heißen, sehr trockenen Jahrgang 2003. Dieser Vergleich stimmt nicht. 2003 waren die meisten Barbaresco und Barolo alkoholreich, aber flach und unreif im Tannin. Gajas 2007 Barbaresco ist ganz anders. Er besitzt Frische. Die Frucht ist nicht marmeladig, das Tannin fest und reif. Ich kann mich an keinen Barolo oder Barbaresco der letzten Zeit erinnern, bei dem zu so frühen Zeitpunkt bereits so viel Nebbiolo aus dem Glas strömte, der so spielerisch-leicht über den Gaumen rollte und der so genussvoll zu trinken war – den Wein des Herrn Giovannini Moresco mal ausgenommen.
Sicher, mit rund 120 Euro pro Flasche ist der Gaja-Wein kein Schnäppchen mehr. Aber wer Schnäppchen sucht, wird weder bei Gaja, noch im Burgund, noch bei Guigal, Peter Sisseck oder anderen Wein-Koryphäen fündig. Um einen vergleichbar perfekten Wein zu finden, gibt es leider nicht viele Adressen im Piemont. Und bei denen zahlt man nicht unbedingt weniger, manchmal sogar mehr.
Leider bekomme ich von berühmten Burgunder-Produzenten keine solchen Verkostungsmuster zugesendet, obwohl ich mir auch über deren Weine gerne ein objektives Bild machen würde. Ich muss sie kaufen. Guigal und Peter Sisseck schicken mir ebenfalls nichts. Und wer lässt Sie glauben, dass mir eine einzige Flasche 2007 Barbaresco von Gaja genügen würde, um unbeschadet durch den Winter zu kommen?
Man könnte mir weiter vorhalten, dass ich angesichts der Großzügigkeit des Winzers mich nun mit einem übertrieben guten Urteil über dessen Wein revanchieren wolle. Falsch. Angelo Gaja hat mir nämlich noch drei weitere Flaschen zukommen lassen: seine Lagenweine Costa Russi, Sori Tildin und Sori San Lorenzo. Da scheue ich mich nicht zu sagen: Ich würde sie nicht kaufen.
Die drei Weine kommen als Langhe Nebbiolo auf den Markt, weil sie fünf bis acht Prozent Barbera-Trauben enthalten, was mit den Statuten des Barbaresco nicht vereinbar ist. Sowohl die Barbera- als auch die Nebbiolo-Trauben stammen aus Barbaresco, so dass die Weine zwar nicht de jure, aber de facto Barbaresco sind.
Soviel vorweg. Die drei Weine sind noch opulenter als der einfache Barbaresco. Ihre Tanninstruktur ist mächtiger, ihre Frucht reifer. Trotzdem besitzen sie eine phänomenale Frische. Ich habe die drei Weine nicht verkostet, sondern getrunken, und zwar mit großer Faszination. Warum ich sie dann nicht kaufen würde? Zum einen, weil sie etwa 300 Euro pro Flasche kosten und ich lange arbeiten müsste, um das Geld zusammenzukriegen. Zum anderen, weil der einfache Barbaresco gegen sie plötzlich richtig billig ist.
Zuerst erschienen: 2010